„Wir könnten ja nicht anders.“

Wir in Reinickendorf • 03/2012

Zum 40. Todestag von Harald Poelchau

von Werner Wüste

Manchmal muss der Mensch innehalten. Sich besinnen. Abwägen. Zusammenhänge erkennen, Ursachen und Folgen, muss sich mancher Widersprüche bewusst werden.

Das läuft darauf hinaus: sich zu entscheiden. Tausend Fragen stellen auf tausendfache Weise.

Klaus Fuchs, der Atomphysiker, schrieb an seinen Vater, nachdem seine Schwester Elisabeth 1939 aus dem Leben geschieden war - und sie nahm sich das Leben, als die (falsche!) Nachricht sie erreichte, die Flucht ihres Mannes aus dem KZ sei misslungen. Klaus Fuchs schrieb:

„Wir haben uns den Weg nicht so schwer gedacht. Aber wenn wir noch einmal zu wählen hätten, würden wir ihn doch wieder wählen. Wir könnten ja nicht anders.“

Die Frage aller Fragen

Die soziale und politische Turbulenz der zwanziger Jahre wurde von sehr vielen als unmittelbare Herausforderung empfunden. Menschen mit sozialem Gewissen wie Emil Fuchs und Harald Poelchau konnten und wollten sich nicht um Entscheidungen drücken. In der Rückschau auf jene Zeit schreibt Emil Fuchs:

„Wir nannten uns Sozialisten. Wir wollten damit sagen, dass nach unserer Meinung heute keine Frömmigkeit die Frage aller Fragen umgehen könne, nämlich, wie wir diese kapitalistische Gesellschaftsordnung um­wandeln könnten in eine, die der Haltung eines religiösen Menschen wirk­lich entspräche.

Uns schien es, daß die vom Kapitalismus zertretenen Menschen und Menschenseelen deutlich genug zu Millionen am Wege lagen.“

„Das war viel wert damals.“

Harald Poelchau erklärte, die Stunde „...fordere einesozialistische Entscheidung, wenn dem Menschen seine Möglichkeit in dieser Gesellschaft entfaltet werden solle... Da die Gesellschaft eine Industriegesell­schaft war, war die Analyse von Karl Marx ein wichtiges Hilfsmittel.“

Dorothee Poelchau erinnert sich in einem Brief an meine Mutter:

„Dann kam die Nazizeit und Ernst verschwand im Zuchthaus. Das waren schwere und sorgenvolle Zeiten. Bald zog Vater Fuchs in die Wohnung unter uns ein und wir haben mit ihm, Elisabeth und dem kleinen Klaus gelebt. Manchmal kamst Du, auch mit Hilde Benjamin, die in Angst um ihren Mann war. Und als Elisabeth aus dem Leben ging, zogst Du mit Werner unter uns ein und wir haben die Sorgen und den Kummer gemeinsam getragen – so war es leichter. Harald konnte Ernst manchmal besuchen und Dir und uns berichten. Das war viel wert damals.“

Kompromisslose Entscheidung

Immer wieder und immer öfter wird die Frage gestellt, ob die Situation heute nicht Parallelen oder zu­mindest Ähnlichkeiten mit der in der Weimarer Republik aufweise, beson­ders mit Blick auf die Neonazis und deren brutale Aktivitäten. Wenn diese Frage, wie ich finde, ihre Berechtigung hat, dann folgerichtig auch die nach der notwendigen persönlichen Entscheidung.

 Es ist hier nicht der Platz für eine, wenn auch verkürzte, Lebensbe­schrei­bung Harald Poelchaus. Wie nur wenige Menschen hat er kompro­miss­los seine Entscheidungen getroffen und hat sie konsequent gelebt. In praktischer christlicher Liebe für die Hilfebedürftigen und Verfolgten. Auch mit der möglichen Konsequenz, das eigene Leben zu geben. Jene, deren Leben er vor der Mordlust der Nazis bewahrt hat, die, denen er auf dem Wege zur Hinrichtung beistand, die Freunde, denen er Mut zusprach, ohne zu fragen, ob Jude oder Christ oder Kommunist, zählen nach Tausenden.

10348 - der Asteorid Poelchau

Harald Poelchau starb am 29. April 1972. Er war noch nicht siebzig. Aber er hat gelebt, „dass es einen Eindruck gemacht hat am Weg.“ (Brecht)

Auf den Tag genau zwanzig Jahre danach entdeckt in der Thüringer Lan­dessternwarte ein Astronom einen Asteroiden. Der erhält die Nummer 10348. Dr. FreimutBörngen gibt ihm den Namen Poelchau.

10348 Poelchau befindet sich am Himmel in guter Gesellschaft: Fried­rich Fröbel, Adolf Reichwein, Franz von Assisi, Johann Gottfried Herder, Albert Schweizer, die Weiße Rose, die Rote Kapelle, Kreisau, Bonhoeffer, Delp und Staufenberg, Klemperer und Kollwitz, Liebermann, Ossietzky, Tucholsky, Wiesenthal, Max Beck­mann und Bertold Brecht, Gropius und Mies van der Rohe, Weill und Werfel ...

Freimut Börngen hat über 500 Asteroiden entdeckt und hat ihnen Namen gegeben.

ORION, die Zeitschrift der Schweizerischen Astronomischen Gesellschaft, schrieb: „Dr. Freimut Börngen ist mehr als ein Freund der Sterne. Er ist ein Freund der Menschen.“

Und auch einen Asteroiden gibt es: 3854 Börngen. So ehrte ihn die Internationale Astronomische Union.

Bis vor kurzem hatte ich von dem Mann im Tautenburger Forst nicht einmal den Namen gehört. Nun kann ich den Lesern von WiR mitteilen, dass er, etwas salopp ausgedrückt, als Asteroid am Himmel kreist. Gemeinsam mit vielen der von ihm entdeckten, gemeinsam mit Harald Poelchau.

Gerechte unter den Völkern

Immer wieder gibt es Überraschungen im Leben. Das gefällt mir, besonders natürlich, wenn es sich um derart freundliche handelt. Noch einmal aus einem Brief von Dorothee an meine Mutter:

„Als wir in Jerusalem waren, habe ich in der Gedenkstätte Yad Vashem in der Allee der Gerechten der Völker einen Baum für Harald gepflanzt mit seinem Namensschild. Das ist besser als ein Grabstein.“

Das ist Dorothee in ihrer stillen Bescheidenheit. Wikipedia allerdings weiß zu berichten: „1971 wurden Poelchau und seine Frau Dorothee von der Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt.“

Es ist meine tiefe Überzeugung: Ohne ihre Frauen hätten viele, die wir ehren, die notwendige Kraft, für die wir sie bewundern, nicht aufbringen können. Harald und Dorothee Poel­chau gehören für mich zu den Menschen, die mit Klaus Fuchs sagen würden:

„Wir könnten ja nicht anders.“