Giftköder in Heiligensee
Kleine Anfrage
Sachverhalt:
Sehr geehrte Frau Bezirksverordnetenvorsteherin,
der Bezirksverordnete Felix Lederle (Fraktionsloser Bezirksverordneter DIE LINKE) hat gemäß § 26 GO BVV die folgende Kleine Anfrage gestellt:
„Vorbemerkung:
Das Europäische Parlament hat den Wirkstoff Bromadiolon als persistenten, bioakkumulierbaren und toxischen (PBT) Stoff eingestuft. In der Durchführungsverordnung (EU) 2017/1380 der Kommission vom 25. Juli 2017 wurde er bis zum 30. Juni 2024 vorübergehend unter strengen Regeln und in stark eingeschränkten Kontexten einzig aus Mangel an Alternativen zugelassen. Am 20. März 2024 tritt nun eine Verlängerung bis zum 31. Dezember 2026 in Kraft. Absatz 6 hält fest: "Die Verwendung von Bromadiolon enthaltenden Produkten wirft ferner Bedenken im Hinblick auf Fälle von Primär- und Sekundärvergiftung auf, auch wenn restriktive Risikomanagementmaßnahmen ergriffen werden, sodass Bromadiolon auch die Kriterien für die Einstufung als zu ersetzender Wirkstoff gemäß Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe e der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 erfüllt." Berufsmäßige Verwender*innen dürfen Produkte mit dem Wirkstoff Bromadiolon nicht in Abwasserrohren und auf freien Flächen verwenden und nur in manipulationsscheren Köderstationen.
Ausschließlich geschulte berufsmäßige Verwender*innen mit entsprechenden Ausbildungsnachweisen dürfen Produkte mit dem Wirkstoff Bromadiolon in Abwasserrohren und auf freien Flächen verwenden. Pflanzenschutzmittel mit dem Wirkstoff Bromadiolon sind in Deutschland verboten.
Ich frage das Bezirksamt:
1. Wer hat in Absprache mit ggf. wem (Senat bzw. Bezirksamt) am 13. Juli 2023 am Heiligenseer Lindengraben in den Büschen (Bezirkszuständigkeit) und an den Böschungskanten (Senatszuständigkeit) wie viele und gegen genau welche Nagetierarten gerichtete Giftköderboxen mit Murin Forte Pasta mit dem Wirkstoff Bromadiolon ausgebracht, und wie viel hat diese Maßnahme gekostet? War dies eine gemeinsame Maßnahme von Bezirk und Senat bzw. mit Genehmigung der jeweils anderen zuständigen Behörden oder fand hier eine Überschreitung der Zuständigkeitskompetenzen statt?
2. Wurde diese Maßnahme durch einfaches berufsmäßiges oder durch geschultes berufsmäßiges Personal mit Ausbildungsnachweisen ergriffen?
3. Das Berliner Wassergesetz (BWG) in der Fassung vom 17. Juni 2005 § 40a (2) verbietet den Umgang mit wassergefährdenden Stoffen auf den Gewässerrandstreifen. Warum hat die giftausbringende Firma die Plastikboxen unmittelbar vor einem schon an diesem Tag angekündigten potentiellen Regenunwetter am folgenden Wochenende nicht nur auf dem Gewässerrandstreifen, sondern schräg auf der Böschungskante eines Entwässerungsgrabens abgestellt, dessen Wasser teils in das Naturschutzgebiet der Schwimmhafenwiesen bzw. dem Trinkwassergewinnungsareal für u.a. Teile Nord-Berlins und teils an zwei offiziellen und einem wilden Kinderspielplatz vorbeiführt, deren Kinder gerne auch in der Grabensohle spielen?
4. Zwar sind die Giftboxen mit einem dünnen Metallband am Grabenfallschutz befestigt worden, aber bei Unwettern können erhebliche Mengen Wasser aus den Parkwegen über die Böschungskanten in den Graben stürzen. Wie starkregenflutfest sind die Giftboxen bzw. kann das Gift in der einen oder anderen Form aus der Box gespült werden?
5. Warum wurde ein Gebäudeservice mit der Ausbringung schwer toxischer Stoffe in einer geschützten Grünanlage mit Wasseranschluss an ein Naturschutzgebiet beauftragt, dessen Grünanlagenservice auf Garten- und Landschaftspflege innerhalb geschlossener Gewerbeimmobilien und der Begrünung von Innenräumen ausgerichet ist bzw. hat deren Personal eine entsprechend notwendige Schulung auch der Natur- und Wasserschutzgesetze absolviert bzw. warum hält es sich ggf. nicht an diese?
6. Wer genau hat die Ausnahmegehmigung erteilt, die das überhaupt erst ermöglicht, und was ist das dafür vorgeschriebene überwiegende öffentliche Interesse gewesen, dessen Verbot ansonsten eine unzumutbare Härte darstellen würde?
7. Wann, genau wo und durch wen wurden seit 2020 in Heiligensee Köderfallen mit dem Wirkstoff Bromadiolon oder mit anderen Wirkstoffen aufgestellt bzw. welche anderen Wirkstoffe waren das gegebenenfalls?
8. Wo hat der Bezirk seit 2022 außerhalb Heiligensees noch Giftköder ausgelegt und warum?
9. Wer ist in Reinickendorf für die Bergung, Untersuchung und Entsorgung von Tierkadavern zuständig und wie ändert sich das nach Fundort?
10. Ende Juni 2023 haben Anwohnerinnen und Anwohner am Haselgraben einen und am Grimbartgraben vier Waschbärkadaver gefunden. Anfang August kam der nicht mehr frische Kadaver eines Marderhundes am Grimbartgraben hinzu, der vermutlich aus demselben Zeitraum stammt. Dort wurde auch eine verendende Waldmaus neben einem Waschbärkadaver gefunden, so dass ein kausaler Zusammenhang auch hier zwischen einer Giftausbringung und verendeten primären und sekundären Säugetieren naheliegt. Mindestens vier der größeren Säugetiere sind von Anwohnern den Behörden seit dem 24. Juni 2023 gemeldet worden. Mindestens zwei der gemeldeten Kadaver sind von Aasfressern vor der Bergung verzehrt worden sowie auch mindestens in Teilen die nicht gemeldeten. Offenbar mindestens zwei weitere Kadaver sind behördlich geborgen worden. Woran sind diese beiden Waschbären verstorben bzw. wenn die Todesursache nicht untersucht wurde, warum hat das Veterinärsamt dieser Aufgabe nicht nachkommen können?
11. Falls ein Personal- oder Finanzierungsmangel der Grund ist, was hat der Bezirk unternommen bzw. was wird er unternehmen, damit der Bezirk diesen behördlichen Aufgaben wieder nachkommen kann?
12. Obwohl eine unmittelbar nahende Grabenmahd schon bei der Meldung der Tierkadaver angekündigt worden war, wurden die beiden Kadaver erst am 10. Juli nach weiteren Verschwemmungen im Zuge eben dieser zwischenzeitlichen Grabenmahd des Senats offenbar durch das vom Veterinäramt beauftragte Straßen- und Grünflächenamt geborgen. Mit der Konsequenz, dass ein Kadaver angehäckselt und mindestens zwei weitere Überreste in den Mahdhaufen gelandet sind. Einer dieser Kadaver ist vor Abholung des Mahdhaufens wieder veschwunden. Wo ist letzterer hingekommen und warum hat es über zwei Wochen gedauert, bis die Kadaver abgeholt wurden und wie lange sind unterschiedliche Gifte in ungekühlten Kadavern nachweisbar?
13. In der Zwischenzeit war die Grillsaison an den Grundstücken direkt am Grimbartgraben in vollem Gange. Mit einem entsprechenden Fliegenverkehr zwischen beiden Nahrungsquellen. Für wie hygienisch oder gar gefährlich hält der Bezirk eine im Hochsommer verschleppte Bergung großer Kadaver aus Grünanlagen in Wohngebieten - mit und ohne Vergiftung der Tiere?
14. Was genau ist mit den Mahdhaufen passiert, in denen sich Überreste womöglich vergifteter Tiere befanden? Wurde aus diesen beispielsweise Gartendünger hergestellt?
15. Da Bromadiolon erst nach mehreren Tagen qualvoll wirkt und durch die Berner Konvention von 1979 besonders geschützte Dachse, wie auch Waschbären und verschiedene Marderarten, an den Gräben jagende Fischreiher und Greifvögel wie der Mäusebussard Kleinsäuger fressen, sowie Füchse Kleinsäuger und Aas und Marderhunde Aas, hält es der Bezirk für angemessen, Giftköder in Gräben bzw. Grünanlagen auszulegen, mit einem Wirkstoff, der als Sekundärgift wirkt, mit Nagetierjägern, die teilweise oder ganz in diesen Gräben leben?
16. Die Heiligenseer Entwässerungsgräben befinden sich in den Jagdrevieren zu Lande und zu Luft teils geschützter Tiere vor allem des flächenhaften Naturdenkmals Bumpfuhl, des Vogelschutzgebiets Mittelfeldteich und/oder des Natur- und Großvogelschutzgebiets der Schwimmhafenwiesen. Wie vereinbar mit dem Wildtierschutz sieht der Bezirk die Ausbringung von PBT-Giften, die die EU eigentlich verbieten will, in solchen sich überschneidenden Revieren, auch in Bezug auf eine verzögerte oder gar nicht erfolgte Bergung von Tierkadavern, wenn z.B. auch über aasfressende Kleintiere wie Insekten und Schnecken diese Gifte in den Nahrungskreislauf eingebracht werden?
17. Da eine Permanentbeköderung mit Bromadiolon u.a. wegen Resistenzbildung unerwünscht ist, so dass die gewünschte Wirkung dieser Maßnahme nur von sehr begrenzter Dauer sein wird, Dachse, Füchse, Waschbären, Marderhunde, Fischreiher und Mäusebussarde aber permanent Kleinsäuger bzw. Aas fressen, für wie zielführend hält der Bezirk eine Nagetierbekämpfung, bei der deren Jäger durch Sekundärvergiftungen zu Tode kommen?
18. Der ostasiatische Marderhund breitet sich seit den 1960er Jahren auch in Deutschland aus. Ob der Neozoon als invasiv gilt ist umstritten. Laut NABU kann selbst in Arealen mit wesentlich höheren Beständen ein Schaden an Niederwild und Vögeln bisher nicht schlüssig nachgewiesen werden, da er sich überwiegend von Früchten, Beeren, Eicheln, Insekten und Aas ernährt. Der nordamerikanische Waschbär hingegen hat einen invasiven Charakter. Beide Tierarten demonstrieren allerdings das Phänomen, dass sich ihre Reproduktionsrate steigert, sobald der Mensch ihnen nachstellt. Wie bewertet der Bezirk einen vergiftenden Umgang mit diesen Tieren?
19. Wie verträgt sich die Ausbringung von u.U. aus den Boxen ausgespültem Nagetiergift an einem Graben, dessen Wasser in einen Teich flutet, in dem gelegentlich geschützte Biber leben, deren Verbleib der Bezirk dort offenbar mindestens in der jüngeren Vergangenheit gefördert hat, wenn sich im Teichschlick über verendende primäre Zieltiere oder sekundäre Tieropfer PBT-Gifte anreichern können?
20. Berichten von Anwohnerinnen und Anwohnern zufolge ist einer der Biber nun vor Kurzem im Erlengraben verendet - mit Meldung an die Behörden. Konnten die Behörden 2024 und wenn ja, welche, einen Biberkadaver aus dem Erlengraben bergen und wenn ja, woran ist der Biber verendet?“
Die Kleine Anfrage wird wie folgt beantwortet:
Zu 1. bis 8.:
Das Umwelt und Naturschutzamt sowie das Straßen- und Grünflächenamt haben keine Kenntnis über die Ausbringung von Giftködern. Eine entsprechende Maßnahme wäre je nach Ziel und Umfang im Sinne der Landschaftsschutzgebietsverordnung Heiligensee nach § 3 Abs. 1 genehmigungsbedürftig, ausgenommen Sie dient einem höheren Schutzzweck (z.B. Abwendung Gefahr für Leib und Leben). Eine entsprechend Genehmigung wurde nach aktuellem Stand nicht erteilt.
Zu 9.:
Für die Meldung der Tierkadaver an das vom Land Berlin beauftragte Entsorgungsunternehmen ist gemäß Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsgesetz (TierNebG) grundsätzlich der Besitzer, also derjenige zuständig, auf dessen Grund und Boden sich der Kadaver befindet. Allerdings müssen einige dieser Tierkadaver auf Tierseuchen untersucht werden.
Wenn sich ein Tierkadaver in einem Gewässer befindet, teilt sich die Zuständigkeit der Bergung, Untersuchung und Entsorgung zwischen der Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher - und Klimaschutz und dem Bezirksamt. Hier birgt und ggf. entsorgt die Senatsverwaltung, das Umwelt- und Naturschutzamt oder das Straßen- und Grünflächenamt und die Veterinär- und Lebensmittelaufsicht lässt die Tierkadaver ggf. untersuchen. Bei Gewässern 1. Ordnung und Fließgewässern 2. Ordnung obliegt die Zuständigkeit in diesen Fällen der Senatsverwaltung. Für stehende Gewässer 2. Ordnung ist hingegen das bezirkliche Umwelt- und Naturschutzamt zuständig. Es kommt auch vor, dass die Feuerwehr oder die Wasserschutzpolizei um Amtshilfe gebeten werden. Für die Meldung von Tierkadavern auf Privatgrundstücken sind die Eigentümer der Grundstückeverantwortlich. Auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Grünflächenist das Straßen- und Grünflächenamt für die Ensorgungsmeldung zuständig. Tierkadaver auf der Fahrbahn werden im Rahmen der Gefahrenabwehr von der Polizei entsorgt. Für Kadaver von im Wald befindlichen Wildtieren, ist die zuständige Revierförsterei zuständig.
Zu 10.:
Ab dem 24. Juni 2023 sind der Veterinär- und Lebensmittelaufsicht Reinickendorf lediglich zwei Tierkadaver im Bereich des Grimbartgrabens gemeldet worden. Die Kadaver waren anhand der übermittelten Fotos schon so stark verwest, dass eine Untersuchung kein Ergebnis gebracht hätte. Die Meldungen wurden daher zuständigkeitshalber an das Straßen- und Grünflächenamt weitergeleitet.
Zu 11.:
Ausschlaggebend für die nicht eingeleiteten Untersuchungen war kein Personal- oder Finanzierungsmangel ursächlich (siehe Frage 10).
Zu 12.:
Dem Straßen- und Grünflächenamt ist die Bergung der Kadaver nicht bekannt. Es wird davon ausgegangen, dass diese gegebenenfalls durch die Senatsverwaltung entfernt wurden.
Zu 13.:
Die Veterinär- und Lebensmittelaufsicht Reinickendorf stuft eine Kontamination von Lebensmitteln durch Fliegenkontakt mit einem Kadaver und anschließend mit Lebensmitteln als unhygienisch, im Sinne einer nachteiligen Beeinflussung, ein. Nicht jeder Kontakt von einer Fliege mit einem Lebensmittel bedeutet aber die Übertragung von krankmachenden Erregern. Dennoch besteht die Gefahr, dass Fliegen Krankheitserreger übertragen können. Ob dieses zu einem Risiko wird, hängt davon ab, wie stark, wie oft und wie lange man der Gefahr ausgesetzt ist.
Zu 14:
Eine entsprechende Recherche und Auswertung ist mit vertretbarem Zeitaufwand nicht möglich.
Zu 15. bis 17.:
Eine abschließende Bewertung ist durch das Umwelt- und Naturschutzamt nicht möglich. Betreffend des potentiellen Einsatzes von Giften in Landschaftsschutzgebieten siehe die Antworten zu 1. bis 8.
Zu 18.:
Eine abschließende Bewertung durch das Umwelt- und Naturschutzamt ist nicht möglich. Marderhund und Waschbär sind jeweils als invasive Art mit Management- und Maßnahmenblättern gelistet. Eine Umsetzung ist mit den der unteren Naturschutzbehörde zur Verfügung stehenden Mitteln und ohne ein berlinweit abgestimmtes Vorgehen nicht möglich.
Zu 19.:
Eine abschließende Bewertung ist durch das Umwelt- und Naturschutzamt nicht möglich. Betreffend des potentiellen Einsatzes von Giften in Landschaftsschutzgebieten siehe die Antworten zu 1. bis 8.
Zu 20.:
Am 12. Februar 2024 wurde dem Umwelt- und Naturschutzamt Reinickendorf telefonisch ein toter Biber am Erlengraben gemeldet. Diese Information wurde umgehend an das Institut für Zoo- und Wildtierkunde weitergeleitet. Das Tier wurde ebenfalls am selben Tag geborgen und am folgenden Tag am Institut untersucht. Laut dem Obduktionsbericht wies das Tier eine Infektion auf und befand sich in einem allgemein schlechten Zustand. Die Todesursache lautet Ertrinken. Weitere Totfunde aus diesem Jahr sind dem Umwelt- und Naturschutzamt Reinickendorf nicht bekannt.
Wir bitten Sie, sehr geehrte Frau Bezirksverordnetenvorsteherin, diese Antwort an den Bezirksverordneten Felix Lederle weiterzuleiten.
Emine Demirbüken-Wegner Julia Schrod-Thiel
Bezirksbürgermeisterin Bezirksstadträtin