Beim Wort genommen

Wir in Reinickendorf • 09/2008

Offener Brief eines volljährigen Reinickendorfer Bürgers an seine Bezirksbürgermeisterin

Sehr geehrte Frau Wanjura,

zu meinem 18. Geburtstag schickten sie mir einen Brief. Ich möchte heute, drei Jahre später, von meinen Erfahrungen berichten. Sie meinten, der neue Lebensabschnitt brächte nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten mit sich – und Verantwortung.

Ich sollte an politischen Entschei­dungs­prozessen teilnehmen und mitbestimmen, wie „die Zukunft -Ihre Zukunft- aussieht.“ Und sie forderten mich auf: “Wenden Sie sich mit Fragen, Kritik und Anregungen an Ihre Ab­­ge­ordneten und Bezirksverordne­ten oder an mich.“
Ich habe Sie beim Wort genommen.

Trauerspiel BVV

Ich war in der BVV, habe von meinem Recht, Einwohnerfagen zu stellen, Gebrauch gemacht. Leider schien es oft so, dass die Fragen nicht erwünscht waren. Man lie゚ Bürgerinnen und Bürger stundenlang warten. So auch mich. Wenn es dann endlich so weit war, nahm das Trauerspiel seinen Lauf.

Frau Schultze-Berndt zum Beispiel lieferte einmal interessante Erklärungsversuche, wieso die Finnen beim Pisa-Test besser abgeschnitten haben. Ihr zufolge läge es daran, dass es dort das ganze Jahr dunkel sei und die Kinder so gezwungen seien, „zu Hause zu sein und vor dem Kamin Bücher zu lesen“. Sie glaubt wohl auch, dass „Zitronenfalter Zitronen falten“.

Anstandsregeln Fehlanzeige

In der Sitzung zeigen Verordnete ihre „schlechte Kinderstube“. Gegenseitige Beschimpfungen, permanentes Dazwischenreden - die Meinung des anderen wird nicht geachtet.

Auch das Vorlesen von zwanzig Seiten zum Thema Tourismus (Gefragtes und Nichtgefragtes) zeugt von schlechtem Stil in unserem Reini­ckendorfer „Bezirksparlament“. Alles in allem ist es peinlich und provinziell, was dort jeden Monat stattfindet.

Mein besonderes Anliegen, die Bekämpfung von rechtsextremen Tendenzen im Bezirk, wird vom Bezirk zwar als Thema wahrgenommen, tatsächlich passiert jedoch nichts oder zu wenig. An dieser Stelle nochmals „Vielen Dank“ für Ihre persönliche Einladung zum „Runden Tisch“ des Bezirksamtes zu diesem Thema. Nur: Leider ist es in Reinickendorf schon ein Fortschritt – von „so etwas gibt es hier nicht“ zu „sowas gibt es, aber die kommen ja alle aus Brandenburg.“ Machen Sie sich nur etwas vor...

Effektiver wäre es beispielsweise, nach Pankower und Treptow-Köpe­nicker Vorbild eine zentrale Registerstelle einzurichten, die rassistische, antisemitische und rechtsextreme Vorfälle im Bezirk sammelt, registriert und ggf. wissenschaftlich aufbereitet. Das wäre ein richtiger und wichtiger Schritt. Bitte, kommen Sie weg von Lippenbekenntnissen und unternehmen Sie etwas, Frau Wanjura!

Mit freundlichem Gruß,
Robert Irmscher