Globalisiertes Sittengemälde

Wir in Reinickendorf • 08/2002 • Wahlzeitung

Da hatte ich mich neulich mit einem alten Freund aus Argentinien verabredet. Ich wartete lange auf ihn und wurde von Minute zu Minute ärgerlicher. Als er schließlich kam, strahlte er mich an: “Was willst du. Ihr Deutschen seid doch auch nicht mehr so pünktlich”. Stimmt, musste ich zugeben und dachte an eigene Versäumnisse - sehr wenige immerhin, fand ich.

Doch dann legte er mich mit einer Theorie über latinische und neuerdings europäische Unpünktlichkeit lahm. “Wir müssen uns eben immer nach dem Augenblick richten. Jeden Moment kann sich bei uns alles ändern. So wie jetzt bei euch. Neulich ließ mich einer am Tisch sitzen, weil er schnell seine Aktien retten musste. Ein anderer kam nicht, weil sein Chef von ihm Überstunden forderte. Der Ärmste hatte Angst um seinen Job und traute sich nicht zu gehen.

Und mal ehrlich; wer wagt es schon heute, einem anderen eine eindeutige Absage zu erteilen, den er noch brauchen könnte in diesen Zeiten der Netzwerke, den dünnen Fäden, an denen oft alles hängt. Wir sind unzuverlässig - stimmt. Wir sind es, weil wir seit fünfhundert Jahren von immer anderen Leuten beherrscht werden und abhängig sind, die sich noch im Exil unter einer 50-Zimmer-Villa mit nichts zufrieden geben. Pass auf, das kriegt ihr alles auch noch.

Hat sich nicht der Ex-Vodafone-Chef in Florida in eine 50-Zimmer-Villa zurückgezogen, und ein anderer Megapleitegänger noch schnell ein Anwesen so groß wie Rhode Island gekauft? Seht ihr, die Globalisierung macht Fortschritte. Jetzt bekommt ihr Patrone von dem Kaliber der Unsrigen und unsere Sitten, die der allzu Mächtigen und die der Ohnmächtigen.”

Ein alter Freund aus Spanien fiel mir ein, der sich, geschäftlich äußerst erfolgreich, dennoch immer noch als Kommunist bezeichnete, mit einer eigentümlichen Traurigkeit a là Don Quijote als “Schiffbrüchigen der 68-er”. Pünktlich war der nun immer wie eine Eins, mit geradezu preußischem Pflichtgefühl ausgestattet, in Beispiel dafür, das aus einem Linken etwas für Wirtschaft verstehen kann, dafür plagt ihn zeitlebens das schlechte Gewissen. “Von Niederlage zu Niederlage bis zum End-Sieg” pflegte er ironisch den Weg der spanischen Linken zu beschreiben. So viel Erfolg im Geschäft und in immer weitere Ferne rückenden ideologischen Sieg konnte der arme Mann nicht verkraften. Er bereist seither mit seinem wohlverdienten Geld sehnsüchtig Wüsten aller Welt, in Ägypten, in Argentinien im Orient.

Den hassen die Götter, dem sie ihre Wünsche erfüllen, sagten schon die Griechen, doch am leichtesten bekommt man mitunter, was man nicht will. Mögen sie hoch leben, die Fata Morganas in aller Welt und die Träume, die keine 50-Zimmer-Villen brauchen, weil Träumen von einer besseren Welt viel mehr ist.

Simone Guski