Anschlag auf die Demokratie?

Wir in Reinickendorf • 10/2002

KOMMENTIERT: Sprayer sind keine Terroristen 

Dass man „in der Mitte Preußens“, in Reinickendorf, schon fast bayerisches flair und den Geruch von Weißwürsten in der Nase hat, wissen wir ja nun schon seit dem Auftritt des bayerischen Innenministers Beckstein im „Alten Fritz“. Konnte man dies noch als rechts-konservatives, dumpfbackiges Wahlkampfgetöse abtun, muss man sich inzwischen wirklich fragen, ob Vergleiche, wie sie in letzter Zeit von Politikern aller couleur gezogen werden, noch eine demokratisch-rationale Grundlage haben.

Den Vogel schoss in Berlin allerdings unsere Bezirksbürgermeisterin, Frau Wanjura, ab. Als der nun weiter amtierende bayerische Ministerpräsident Stoiber Mitte September in der Reinickendorfer Salvator-Schule angesagt war, hatten sprayer als Willkommensgruß die Wände derselben in der Nacht zuvor mit graffiti eingedeckt.

Ich denke auch, es gab schon bessere Ideen, Protest öffentlichkeitswirksam auszudrücken. Lehrer, Eltern und SchülerInnen gaben ihrer Empörung zu Recht Ausdruck. Frau Wanjura hingegen rückte diesen Vorfall in die Nähe des Terroranschlages vom 11. September 2001 in New York und wertete ihn als „Anschlag auf unsere Demokratie“.

Einen vermutlich jugendlich daneben geratenen Ausdruck von Protest gegen einen konservativen Politiker als Grund heranzuziehen, dass „unser Rechtsstaat gefordert“ sei, lässt auf ein Demokratieverständnis schließen, welches wir eigentlich spätestens seit Beginn der 70er Jahre glücklicherweise hinter uns gelassen glaubten.

Wer freie Meinungsäußerer, auch wenn sie in der Wahl ihrer Mittel daneben liegen, auf eine Stufe mit Terroristen stellt und den Rechtsstaat gefährdet sieht, sollte sich nicht wundern, wenn das eigene Verhältnis zu Demokratie von denselben Menschen resolut in Frage stellt wird. Zugegeben, jeder kann sich im Ton und der Wahl der Worte vertun, entschuldigen muss man sich hinterher in jedem Fall, auch und gerade in so exponierter Position wie der der Bezirksbürgermeisterin.

Jürgen Schimrock