Widerstand kommt auf die Straße

Wir in Reinickendorf • 9/2003

Konvoi von Pankow nach Schildow: Agenda Sozial statt Agenda 2010

Leider (noch) keine Massenveranstaltung, aber zu übersehen war er nicht - der Konvoi für eine soziale Agenda. Von der Auftaktkundgebung in Pankow ging es über Reinickendorf zurück zur B96 in Richtung Glienicke, Hohen Neuendorf zur Abschlussveranstaltung nach Schildow. Eingeladen hatte der „AK B96 und B96a in und bei der PDS“. Beteiligt hatten sich Linksruck, die Gesellschaft zum Schutz für Bürgerrecht und Menschenwürde (GBM), attac- Projektgruppe Agenda 2010, der Parteivorstand der PDS, der PDS-Landesverband Berlin und die Volkssolidarität. Mit Straßentheater, Rednern und Musik in Schildow war die Mischung gelungen. Doch um Protest wirkungsvoll darzustellen, braucht es halt mehr Menschen. Das Signal aber war richtig. Darüber waren sich alle einig!

Reinickendorf, Gorkistraße, in der Fußgängerzone. Die erste(?), also historische (!), Demo in der CDU-Hochburg. Ja, da guckten so Manche. Ab 11 Uhr Info-Stand, dann um 13 Uhr der erste öffentliche Auftritt der „Pepperonis“. Eine Kabarett-Theater-Gruppe aus Lichtenberg thematisierte u. a. Vorschläge, wie die „Reform“-Politik der Bundesregierung wirksam umgesetzt werden könnte. So sollte beispielsweise eine Trauung unter der Voraussetzung stattfinden, dass neben der Geburtsurkunde auch ein Schreiben eines Zahnarztes vorzulegen sei, das nachweist, dass die zukünftigen Eheleute sich im Alter ein Gebiss teilen können. Sie morgens, er abends...oder umgekehrt?

Für diesen oder anderen Arztbesuche könnten zukünftig in Quizsendungen Freikarten verlost werden. Ich meine, das wäre der Grundzug wirklicher  Chancengleichheit, oder?

Hier gab es nur ein Kurzprogramm... das wirklich vergnügliche und phantasievolle Ganze dann in Schildow.

Die Berliner PDS-Gesundheitssenatorin Heidi Knake-Werner musste leider aus Termingründen auf ihr Erscheinen verzichten, dafür sprach nach den „Pepperonis“ die flüchtlingspolitische Sprecherin der PDS im Berliner Abgeordnetenhaus, Karin Hopfmann. Sie stellte die beschlossene Zusammenlegung von Erwerbslosen- und Sozialhilfe auf dem Niveau der Sozialhilfe in Frage. Ob die damit verbundene „wirksamere“ Betreuung in den Arbeitsämtern wirklich greifen wird, dürfte bezweifelt werden, angesichts der weiter steigenden Erwerbslosenzahlen. Schließlich würde durch die neue Arbeitsmarktpolitik keine einzige neue Stelle geschaffen. An den Kassen von vielen Baumärkten arbeiten heute viele Schüler, die versicherungspflichtige Vollzeit-Arbeitsplätze ersetzen.

Die Gründung einer geförderten „Ich-AG“ möge für den Einen oder Anderen aufgrund einer guten Ausbildung o. k. sein, doch wird dies z. B. Frauen mit Kindern wohl kaum erfolgreich gelingen. Außerdem stände die Zeit, die viele Frauen aufwenden müssten, um erwerbstätig zu sein, in keinem Verhältnis zum Einkommen.

Die geplanten Steuerermäßigungen wird den meisten Menschen heute schon wieder an anderer Stelle aus der Tasche gezogen. Karin Hopfmann informierte an dieser Stelle auch über die wesentlichen Inhalte der sog. Gesundheitsreform (s. S. 1) und die Eckpunkte der Reformvorschläge der „Rürup-Kommission“.

Natürlich gab es Diskussionen am Rande unseres Info-Standes (das soll auch so sein). Fazit: Mehr Präsenz heißt mehr informieren. Darum muss es heute insbesondere auch gehen.

Anschließend ging weiter Richtung Norden zurück zur B96 und nach Glienicke in Oberhavel.

Der Abschluss in Schildow fand leider mangels Interessenten keinen erhofften Anklang. Hätte doch mindestens das Trio „Neues Glas aus alten Scherben“ ein größeres Publikum verdient. In zum Teil personeller Tradition von Rio Reisers Band „Ton, Steine, Scherben“ gaben die drei Musiker ihr Akustik-Programm zum Besten...und das zum Feinsten. Lieder zum Nachdenken und Mutmachen, zum Mitsingen...ach wären doch mehr da gewesen. Selbst Schuld (oder unsere?!). Zuvor kritisierte Gesine Lötzsch (PDS, MdB) die Agenda-Politik der Bundesregierung. Sei es drum, für alle Anwesenden ein gelungener Abschluss eines anstrengenden Tages. Vielleicht der Auftakt für mehr... auch in Reinickendorf. 

Jürgen Schimrock


Ingeborg Simon für attac:

Noch mehr Umverteilung - nicht mit uns

Mit der Agenda 2010 kommt mehr auf uns zu als Mehrkosten und Einbußen bei der gesundheitlichen Betreuung, den Löhnen, der Arbeitslosenunterstützung und bei der Rente, nämlich die Beerdigung des Solidaritätsgedankens. Ich sage für attac: Dafür stehen wir nicht zur Verfügung.

Die sogenannte Gesundheitsreform soll schon 2004 neun Milliarden Einsparungen erbringen - acht Milliarden davon werden lediglich auf die Versicherten abgewälzt.

Aus der parlamentarischen Landschaft haben wir nichts zu erwarten. Über ihre Fraktionsgrenzen hinweg sind sich Rot-Grün und CDU/CSU einig. Die zwei Einzelabgeordneten der PDS im Bundestag sind da kein Gegengewicht. Wir dürfen uns nicht abfinden damit, dass die Gewerkschaften gerade ihren mit den Kirchen und Sozialverbänden vereinbarten Sozialgipfel abgesagt haben. Wir müssen uns zusammenfinden zur außerparlamentarischen Aktion - Bürgerbewegungen, Gewerkschaften, Kirchen und Interessenverbände. Dafür steht attac zur Verfügung.


Christian Kaever (22) für Linksruck:

Standortlogik ist nicht unsere Logik

Mit der Agenda 2010 werden soziale Rechte und Sicherungen abgebaut, die von vielen Generationen der Arbeiterbewegung erkämpft worden sind. Man sagt uns, das muss sein, damit der Standort Deutschland wettwerbsfähig wird. Dann würden auch wieder Investitionen in Deutschland getätigt werden statt im Ausland, wo die Leute für weniger Geld arbeiten und weniger soziale Rechte beanspruchen. Das ist nicht unsere Logik. Wir sind dafür, dass arbeitende Menschen auch in den anderen Ländern ordentliche Löhne und fortgeschrittene soziale Standards erreichen. Dafür müssen wir uns mit allen denen vernetzen, die hier und in den anderen Ländern für dieses Anliegen eintreten. Diese Vernetzung beginnt damit, dass wir im eigenen Lande Widerstand leisten gegen Sozial- und Demokratieabbau.


Ernst-Otto Christalle für GBM Pankow:

Absenkung auf Ostniveau?

Die Agenda 2010 ist unsozial und nicht akzeptabel. Wer sich seinen eigenen Verstand bewahrt hat und um eigenständige Urteile über Gott und die Welt ringt, erhält Stoff zum Streit mit einer deutschen Gesellschaft, von der Innenminister Schily sagte, in ihr schreite die Verblödung fort. Das war aber schon, bevor Frau Merkel vorschlug, die Arbeitszeit der Wessis der der Ossis anzugleichen. Die Forderung ist nur geeignet, die Massenarbeitslosigkeit zu verfestigen und die Kaufkraft weiter zu senken.

Das Gesetz zur sogenannten Reform des Gesundheitswesens manifestiert den Verlust von gesellschaftlicher Solidarität, sozialem Bewusstsein und minimaler Gerechtigkeit. Pro Kopf der Bevölkerung bedeutet es eine jährliche Mehrbelastung von 600 Euro, und im Bundestag klatschen rosarot, grün und schwarz vereint Beifall. Wer sich seiner Haut nicht wehrt, dem wird sie abgezogen. Wehren wir uns also.