„Das war erst der Anfang“
Wir in Reinickendorf • 11/2003
WiR unter 100.000:
Eindrücke von der Demonstration am 1. November gegen den Sozialkahlschlag
20.000 hatten die Organisatoren erhofft, 100.000 kamen. So tief sitzen Zorn und Frust über die Agenda 2010.
Es findet eine neue Spaltung der Gesellschaft statt. Es wird sortiert in (noch) Benötigte und in Überflüssige. Das hat seinen Hintergrund. In den 25 Jahren von 1971 bis 1996 hat sich in den entwickelten Industrieländern der Arbeitsvolumenbedarf um ein Fünftel verringert. Trotzdem wurden mehr Güter und Leistungen erzeugt als je zuvor. Das beschleunigt sich noch. Und nun beginnen Kapital und Staat, sich von der Verantwortung für die Überflüssigen zu befreien.
Es ist aber keiner überflüssig! Deshalb: Das war erst der Anfang.
Fragen, die ich leider nicht stellen konnte
Auch ich war einer von 100.000 Menschen, die am 1. November auf die Straße gingen, um der rot-grünen Bundesregierung zu zeigen: Wir haben genug von dieser so genannten Reformpolitik.
Als einen von vielen entdeckte ich unter den Demonstranten auch den Vorsitzenden der größten Einzelgewerkschaft der Welt, den ver.di-Chef Frank Bsirske. Ich wollte die Gelegenheit nutzen und ihn fragen, warum er denn seine Meinung vom März diesen Jahres geändert hätte, als er dem Kanzler noch „Verrat“ und „blanken Sozialabbau“ vorwarf? Warum er jetzt zwar noch von „unsozialer Reformpolitik“ redet und gleichzeitig erklärt, es gäbe für beide Seiten keine Alternative zum Dialog, denn sonst schwächten sich die Akteure gegenseitig? Warum ver.di und die IG Metall nicht auch mit aufgerufen haben zu dieser Demonstration? Offensichtlich legt doch die Regierung keinen Wert auf Dialog, sondern nur auf Unterordnung. Da müssen erst mal wieder
Aber plötzlich war der ver.di-Chef nicht mehr zu sehen. Ach ja, fiel mir da ein, er wird bestimmt schon auf dem Weg zum Bundeskanzler sein, zum vereinbarten persönlichen Gespräch.
Klaus Rathmann
Zulauf vom Straßenrand
Es war richtig zu sehen: Beim Zug durch die Tor- und die Friedrichstraße wurden wir immer mehr. Sehr viele reihten sich spontan ein, um ihren Unmut gegenüber der rot-grünen Politik zum Ausdruck zu bringen. Auf dem Gendarmenmarkt endete die Demonstration mit einer Teilnehmerzahl von 100.000 Menschen. Eigentlich nicht einmal eine Überraschung.
Olaf Schwabe
Die neue Einheitspartei
Was den Sozialabbau betrifft, sind im Bundestag Rosarot, Schwarz, Grün und Gelb einer Meinung. Im Demonstrationszug wurde gelästert: Die Einheitspartei Deutschlands ist wieder da. Zwar weder sozial noch sozialistisch, sondern neoliberal, nicht SED sondern NED. Aber die eine genau so wenig offen für Mitsprache von unten wie die andere.
Jochen Eser
Weine nicht, wenn der Kanzler fällt
Die meiste Zeit bin ich mit einer Gruppe Attacies mit gelaufen: ein fröhliches und witziges Volk. Sie sangen ein Lied, das 1998 öfter gesungen wurde: Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unser Widerstand nicht. Das Lied fängt so an: Weine nicht, wenn der Kanzler fällt...
1998 gab es ein breites Aktionsbündnis von Gewerkschaften, Arbeitslosenverbänden, Kirchen und Bürgerinitiativen „Aufstehen für eine andere Politik“. Es war erfolgreich und beendete die Ära Kohl. Aber man machte einen Fehler: es löste sich auf, als der neue Kanzler sagte: „Ich mach das schon, geht ihr man nach Haus.“
Die neue Politik wurde bald die alte. Sie nimmt von denen, die wenig haben, und gibt denen, die viel haben. Bloß unverschämter. Vermutlich wird bei den nächsten Wahlen wieder ein Kanzler fallen.
Und dann? Zurück zur CDU? Das nennt man, den Teufel mit Belzebub austreiben.
Wenn der Widerstand gegen die Agenda 2010 zu einer Bewegung werden und den alten Fehler nicht wiederholen soll, wird er wohl auch ein eigenes Wahlbündnis bilden müssen.
Damit die Alternative bleibt.
Hans Schuster