„Wir achten Dich, Du kannst viel leisten, wir brauchen Dich“

Wir in Reinickendorf • 12/2005

Linkspartei.PDS für Schulstrukturreform

Interview mit Siglinde Schaub, bildungspolitische Fraktionssprecherin im Abgeordnetenhaus

Welche Schlüsse sind aus Deiner Sicht aus der PISA-Studie zu ziehen?

Dem deutschen Schulsystem bescheinigte die PISA-Studie schon zweimal (2000 u. 2003): wie in keinem anderen Land hängt der Bildungserfolg deutscher Schüler vom sozialen Status der Eltern ab. Das zu entkoppeln bleibt die Hauptaufgabe für die nächsten Jahre.

Für uns heißt die Frage nicht mehr, ob Berlin ein neues Schulsystem braucht, sondern wie wir aus dem zwingend selektiven, gegliederten Schulsystem in ein integratives Schulsystem gelangen können, ohne dass Schüler die Leidtragenden dabei sind, wie es 1991 im Ostteil der Stadt geschehen ist.
Die Mehrzahl der PISA-Spitzenländer hat ein integratives Gemeinschaftsschulsystem, das Schüler in ihrer Unterschiedlichkeit als Reichtum versteht, das ohne Zensuren bis in hohe Klassenstufen auskommt und deren Schüler (deshalb) Spitze sind.

Hat die Föderalismusreform Auswirkungen auf die Berliner Schule?

Das lässt sich noch nicht genau sagen. Einerseits hat Berlin es in der Hand, die erforderlichen Reformschritte zu längerem, gemeinsamem Lernen zu gehen, andererseits brauchen wir verbindliche bundesweite Bildungsstandards. Welche Kompetenz Schüler in welcher Klassenstufe erwerben sollen, darf nicht davon abhängen, in welchem Bundesland sie zur Schule gehen. Erst recht nicht auf dem Weg zu einem vereinten Europa.

Eine weitere Gefahr ergibt sich für den Ausbau der Ganztagsschulen, einer zentralen Frage der Qualitätsentwicklung auch in der Berliner Schule, wird das Milliardenprogramm der rot-grünen Bundesregierung (IZBB-Programm) tatsächlich nicht fortgesetzt. Die nächste PISA-Studie kommt 2006.

Welche Angebote sollte Schule heute bereit halten und wo liegen die Vorzüge eines von Dir favorisierten Schulsystems?

Die Paukschule preußischer Prägung sollte endlich auch in Deutschland der Vergangenheit angehören. Schüler müssen als aktiv Handelnde im Lernprozess begriffen werden. Ihnen muss nichts eingetrichtert werden, sondern gemeinsam mit ihnen ist herauszufinden, was in ihnen steckt. Das Miteinander- und Voneinanderlernen zu organisieren - das ist die Herausforderung. Nicht nur die Schule, die ganze Gesellschaft sollte unseren Kindern vermitteln: „Wir achten Dich, Du kannst viel leisten, wir brauchen Dich.“

Viele Berliner Schulen lernen von skandinavischen Vorbildern. Sie praktizieren längeres, individuelles und jahrgangsübergreifendes Lernen in der Gemeinschaft, erreichen damit inzwischen beachtliche Ergebnisse. Dies sind weitere Stichworte für eine neue Lernkultur in der Berliner Schule.

Und die Lehrer, die Pädagogen?

Sie sind der Schlüssel für Reformen in der Schule; ohne sie wird es keine Veränderung geben. Mit der Veränderung ihrer Rolle im Lernprozess müssen sie sich auseinandersetzen, weil die Mehrzahl eine Ausbildung für ein veraltetes Verständnis von Schule durchlaufen hat. Inzwischen sind Reformen für eine neuen Ansprüchen gerecht werdende Lehrerausbildung auf den Weg gebracht. Zwar geht die Reform noch holprig, aber es führt kein Weg an ihr vorbei. Ins Lehramt – ja man studiert noch immer ein Amt, nicht Pädagogik oder ähnliches – kommt man künftig nur noch mit einem Masterabschluss. Der davor liegende Bachelor soll von Anfang an Schulpraxis, Berufswissenschaften (z.B. Pädagogik, Psychologie, Didaktik) und Fachwissenschaft in sinnvoller Verbindung haben. So können künftige Lehrer besser gerüstet in ihren verantwortungsvollen Beruf starten.

Das Interview führte Jürgen Schimrock

Länger gemeinsam lernen

In der Diagnose sind sich Betroffene und Fachleute weitgehend einig: das bundesdeutsche Bildungssystem ist schlecht. Kitas, Schulen und Universitäten werden den Ansprüchen, die eine sich weiter entwickelnde Gesellschaft stellt, längst nicht (mehr) gerecht. Eine große Zahl der Lehrenden sieht sich überfordert, neben überfrachteten und unflexiblen Lehrplänen auch noch soziale und pädagogische Standards vermitteln zu müssen.

Der Koalitionsvertrag von Union und SPD lässt für die Zukunft nichts Gutes erwarten. Bildung als gesellschaftliche Disziplin wird demnach zukünftig fast ausschließlich in die Zuständigkeit der Länder fallen. Bildungsgerechtigkeit geht weiter verloren, wenn Bildung eine Sache der Kassenlage der Länder wird. Statt „Schülern über die Bildung eine neue Welt zu eröffnen“, bleibt diese Republik „Weltmeister in sozialer Ungerechtigkeit“.

Katrin Schultze-Berndt (Reinickendorf), bildungspolitische Sprecherin der CDU im Abgeordnetenhaus fordert „ein profiliertes Schulsystem, in dem die Haupt- und Realschüler nicht immer nur die Schüler sind, die weniger leisten als die Gymnasiasten, die eben schlechter sind. Sie müssen auch anderes lernen, das, was ihre Begabung aufgreift“. Mieke Senftleben (FDP Reinickendorf, MdA) allerdings weiß nicht viel mehr als „wenn wir über Bildung (...) diskutieren, dann muss der Begriff Leistung im Vordergrund stehen“. Und Bundesbildungsministerin A. Schawan (CDU) „warnt“ davor, keine neue Strukturdebatte aufzumachen.

Die Debatte ist aber längst da. Die Linke.PDS und auch die GEW fordern seit langem ein Umdenken.