Die Emigrantin von Heiligensee
Wir in Reinickendorf • 4/2005
Zwölf lange Leidensjahre seien nun zu Ende, schrieb sie am 1. Mai 1945 in ihr Tagebuch. Nein, keine Jahre in Zuchthaus oder KZ, aber Jahre der Selbstverleugnung und der Vereinsamung. Als scharfsichtige, „entartete“ Künstlerin war sie mit Ausstellungsverbot belegt. Sie hatte sich zuletzt in einem Holzhaus mit Garten in Heiligensee, Wildbahn 33, vergraben, durch Heirat mit einem anderen Namen versehen, ohne Kontakt mit Menschen, die ihre Interessen teilten - es hätte diese und sie selbst gefährdet. Innere Emigation.
Hannah Höch (1889-1978) hatte zum Kreis der Berliner Dadaisten gehört. Dada war eine künstlerische und literarische Protestbewegung, eine Reaktion auf das Entsetzen des ersten Weltkrieges. Wozu Geist haben in einer Welt, die auch ohne läuft, fragten die Dadaisten und erklärten Zufall und Banalität zum künstlerischen Programm. Provokation, gewiss, aber die ist seit den alten Griechen legitimes Kunstmittel, in der Hoffnung, das Publikum möge die Sache neu durchdenken und richtig stellen.
Ob Hannah Höch je eine echte Dadaistin war, kann man bezweifeln, obgleich ihre Fotomontage „Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands“ (1919/20) später oft als künstlerisches Dada-Manifest bezeichnet wird. Aber in ihren Arbeiten, ob satirisch oder poetisch-surreal, ist wenig Zufall oder gar Banalität. „Ich sah meine Aufgabe darin, die turbulente Zeit bildlich einzufangen... Ich habe alles gemacht und mich um Handschrift und Merkmale nie gekümmert“, sagte sie im Rückblick. Man sieht das ihren Collagen, Zeichnungen und Malereien an.
Der Neustart nach 1945 wurde der „Daheimgebliebenen“ schwer gemacht. Ihr half, dass Frauenfragen in der Gesellschaft an Gewicht gewannen - und dass in den fünfziger Jahren der Dadaismus in den USA neu entdeckt wurde und über den großen Teich schwappte, obwohl diesmal nicht als Provokation, sondern als Glaubensbekenntnis. In beiderlei Hinsicht hatte sie Rang.
1965 wurde Hannah Höch Ehrenprofessorin der Akademie der Künste. Der Senat vergibt seit 1996 einen Hannah-Höch-Preis für Lebenswerke mit künstlerischem Rang.
Hans Schuster