Die Politik könnte auch anders, wenn sie wollte und sich traute

Wir in Reinickendorf • 9/2005

Gespräch mit Wahlkreiskandidat Andreas Wehr, Die Linke.PDS

Die Linkspartei.PDS steht für eine neue soziale Idee. Das ist die Überschrift ihres Wahlprogramms. Worin soll diese neue soziale Idee bestehen?

Ich sage es mal so: Wirtschaftlicher Fortschritt sollte wieder mit sozialen Fortschritt einhergehen.

Das ist eigentlich eine alte sozialdemokratische Idee.

Aber eine, die seit seit zwanzig Jahren verschüttet ist. Die Kohl-Regierungen haben einen anderen Kurs gefahren, und die Regierung Schröder hat ihn auf die Höhen von Agenda 2010 und Hartz IV geführt. Im Ergebnis sind heute die großen Unternehmen finanzkräftiger, die großen Vermögen größer und die Arbeitslosigkeit höher denn je.

Wir haben nur geringes Wirtschaftswachstum; kann man da von wirtschaftlichem Fortschritt sprechen?

Wir haben ein gutes Wachstum der Produktivität. Die DAX-Unternehmen machen hohe Gewinne und verfügen über viel freies Kapital. Deutschland ist Exportweltmeister...

...aber am Binnenmarkt ist Flaute.

Unter anderem, weil die Arbeiter und Angestellten nicht am Produktivitätszuwachs beteiligt werden, weder beim Lohn noch bei der Arbeitszeit. Die Gewerkschaft Ver.di hat ein Gutachten vorgelegt, dass die Löhne und Gehälter etwa 17 Prozent höher sein müssten, wenn sie die letzten zwölf Jahre mit der Produktivität mitgewachsen wären. Dazu kommt, dass ein hoher Anteil der wirklich großen Einkommen nicht über Konsum oder materielle Investition in den Wirtschaftskreislauf zurück gelangt.

Kohl wurde abgewählt wegen etwa vier Millionen Arbeitslosen, Schröder wird es vielleicht wegen fünf Millionen. Jetzt versprechen sowohl CDU/FDP wie SPD/Grüne, sie wollen für mehr Arbeit sorgen. Kann man’s glauben?

Steuern, Löhne und Sozialleistungen runter, Arbeitszeit rauf - das klappt nicht. Die Praxis von zwanzig Jahren hat widerlegt, dass so neue Arbeitsplätze entstehen.

Was könnte wirklich helfen?

Die Konjunktur folgt der Nachfrage, und Nachfrage setzt Kaufkraft voraus, also gerechte Löhne und ausreichende soziale Sicherungen. Und wir müssen Geld beschaffen für die viele Arbeit, die gegenwärtig liegenbleibt oder nicht ordentlich gemacht wird. Wir brauchen ein Zukunftsinvestitionsprogramm, vor allem für Bildung und Erziehung, für Wissenschaft und Forschung, für Energieeinsparung und ökologischen Umbau.

Soviel Geld hat der Staat nicht. Soll er noch mehr Schulden machen?

Deutschland ist ein Lohn- und Verbrauchsteuerstaat und unterscheidet sich dadurch von vielen anderen. Gewinne und Vermögen müssen endlich gerecht beteiligt werden. Das könnten 60 Milliarden Euro mehr sein.

Da erklingt doch gleich das alte Lied vom scheuen Kapital, das ausreißt, wenn man es nicht ganz toll lieb hat.

Kapital bleibt da, wo gute Geschäfte zu machen sind. Und gerade die vielen Unternehmen, die Güter und Leistungen direkt für die Bev ölkerung bereitstellen, brauchen steigende Kaufkraft.

Allerdings: zumindest in der EU sollte eine Bundesregierung auf die Angleichung von Sozial-, Steuer- und Umweltstandards setzen. Bisher bekennt sie sich zum Wettbewerb um die niedrigsten Standards. Aber Politik könnte auch anders, wenn sie wollte und wenn sie sich traute.

Welchen Wert hat eine starke linke Fraktion im Bundestag? Die Forderungen unseres Wahlprogramms werden dort kaum Verbündete finden.

Zumindest werden politische Alternativen eine kräftigere Stimme haben. Die Regierenden werden reagieren müssen, die SPD tut es in Details schon jetzt. Und eine starke linke Fraktion könnte für kritische Organisationen und Initiativen ein hilfreicher und aufmerksamer Ansprechpartner sein. Ich hoffe, sie wird in der neuen Aufstellung einen guten Teil ihrer Kraft an diese Kontakte wenden.

Zur sozialen Idee eine neue soziale Bewegung - das könnte Hoffnung machen. Danke für das Gespräch.

Die Fragen stellte Hans Schuster