Ein Generalangriff auf fast alle öffentlichen Dienstleistungen

Wir in Reinickendorf • 02/2006

Sahra Wagenknecht im WIR-Interview:
Europäische Linke bleibt bei ihrem Nein /
Schnelles und energisches Handeln notwendig

Am 14. Februar soll in Strasbourg eine EU-Dienstleistungsrichtlinie verabschiedet werden, bekannt unter dem Namen Bolkestein-Richtlinie. Welche praktischen Auswirkungen hätte sie für die ArbeitnehmerInnen?

Der Richtlinienentwurf sieht weitere Liberalisierung und Deregulierung vor. Es soll zukünftig das so genannte Herkunftslandprinzip gelten. Demnach unterliegt der Dienstleistungserbringer einzig den Rechtsvorschriften des Landes, in dem er niedergelassen ist. In jedem Mitgliedsstaat würden damit künftig 25 unterschiedliche Rechtssysteme nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren. Die Konzerne könnten ihren Briefkasten dahin verlagern, wo sie die geringsten Auflagen zu erfüllen haben und die Löhne am niedrigsten sind. Es würde ein Wettkampf um die schlechtesten Arbeitsbedingungen und Standards entbrennen. Viele Handwerksbetriebe und unzählige Arbeitsplätze im gesamten Dienstleistungssektor wären gefährdet oder könnten nur noch zu katastrophalen Bedingungen erhalten bleiben.

Welche Möglichkeiten des Widerstandes gibt es?

Alle europäischen Linksparteien in den 25 Ländern rufen auf, schnell und energisch dagegen zu handeln. Die europäische Linke im Parlament bleibt bei ihrem Nein. Wir fordern die Menschen in Deutschland und Europa auf: Informieren Sie sich! Üben Sie Druck auf die PolitikerInnen aus, schreiben Sie Ihnen und fordern Sie sie auf, bei den bevorstehenden Abstimmungen im Parlament gegen die Richtlinie zu stimmen.

Unterstützen Sie die Protestdemonstration von Gewerkschaften, Parteien und sozialen Bewegungen am 11. Februar in Berlin.

Das Interview führte Linda K.

Was ist die Bolkestein-Richtlinie?

70 Prozent der deutschen Gesetze, die im Bundestag entstehen, hatten in der EU in Brüssel ihren Ursprung. So wie auch die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 europäisch eingebettet sind.

Im Januar 2004 wurde ein Entwurf zur Europäischen Dienstleistungsrichtlinie vom ehemaligen EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein eingereicht, nach dem die Richtlinie benannt wurde.

Unter den Begriff „Dienstleistungen“ fallen alle Freien Berufe wie Wirtschaftsprüfer oder Architekten, aber auch Angebote der öffentliche Dienste und von Trägern der Freien Wohlfahrtspflege.

Die Bolkestein-Richtlinie sieht massivste Deregulierungen vor: Staatliche Auflagen und nationale Rechtsformen sollen zugunsten des „Herkunftslandprinzips“ systematisch reduziert und unterlaufen werden.

Sollte diese Richtlinie in Kraft treten, könnte jedes Unternehmen durch die Verlagerung seines Firmensitzes oder der Gründung von Briefkastenfirmen im EU-Ausland sich lästiger inländischer Auflagen entledigen. Örtliche Tarifverträge, Qualitätsnormen, Standards bei Arbeits-, Umwelt- und Verbraucherschutz können so einfach umgangen werden.

Auch Bildung definiert die EUKommission als handelbare Dienstleistung. Betroffen sind Betreiber von Kitas, Hochschulen oder Berufsbildungsangeboten. Nationale Qualitätskriterien werden dabei außer Kraft gesetzt und der ökonomischen Logik geopfert. Gemeinnützige Träger sollen z.B. nicht mehr durch staatliche Zuschüsse bevorzugt werden.

Qualitätsstandards, Löhne und Sicherheit werden fallen - und die Firmengewinne steigen.

Das ist auch so gewollt.

G.K.