Nach Stalingrad kam für uns Lübars…
Wir in Reinickendorf • 01/2008
Von Kurt Franke
Am 15. Februar 1943, also vor 65 Jahren, ging für etwa fünfzig 16 – 17jährige Schüler des Lessing-Gymnasiums in Berlin-Wedding die Schulzeit faktisch abrupt zu Ende, als wir, mit einem Persilkarton in der Hand, den Hügel am Ortsausgang von Lübars hinaufgingen. Dort, wo heute ein Freizeitpark friedfertigen Menschen Erholung ermöglicht, stand damals die 1. Batterie der schweren Flakabteilung 154, deren Stab sich in Frohnau befand. Der nach der Niederlage der faschistischen Wehrmacht bei Stalingrad verkündete ‚totale Krieg’ ließ uns zu Kindersoldaten werden, die Ältere zum Einsatz an der Front abkömmlich machen sollten. Auch russische Kriegsgefangene gab es hier, die durch den Hunger in den Lagern zu HiWi’s (= Hilfswilligen) der Wehrmacht gemacht wurden. Beim Gefechtsschießen mußten sie Granaten schleppen und sonst hatten sie die unangenehmen Arbeiten zu erledigen ( z. B. Latrinen säubern, Erdwälle schippen usw.).
Die Grundausbildung begann neben dem meist auch psychisch erniedrigenden Drill mit dem Einüben von Bewegungsabläufen an Geräten und Geschützen. Die Vortragenden der theoretischen Unterweisungen zur Heeresdienstvorschrift (HDV) und zur Flak-Schießlehre hatten fast nie das didaktische und rhetorische Format unserer Lehrer. Dafür ließen sich die simplen Formulierungen ihres Stoffes viel besser lernen und behalten, als mathematische Formeln und lateinische Verben. Diesen entgingen wir aber nicht, denn nach zwei Monaten wurden uns wieder 18 Wochenstunden Schulunterricht erteilt, und zwar in der nicht mehr bestehenden Gaststätte ‚Zum lustigen Fink’ am Fuße unseres Hügels. Wir sollten wenigstens formal für ein Notabitur im Sommer 1944 vorbereitet werden. Die Sprachen des Feindes (englisch und französisch) waren allerdings im reduzierten Lehrprogramm nicht mehr enthalten.
Ab Sommer 1943 nahmen die Luftangriffe der Alliierten auf Berlin zu. Wenn wir danach nachts den Himmel über dem Norden Berlins rot leuchten sahen, machten sich alle begründete Sorgen um ihre dort lebenden Eltern und Geschwister.
Der Weg nach Hause vom Bahnhof Waidmannslust führte uns durch den Zabel-Krüger-Damm. Hier hatte der Vater unseres Mitschülers Klaus Mühlfelder (Dr. Simon M.) bis 1938 als praktischer Arzt gewirkt. Dann stufte man ihn als ‚Krankenbehandler für Juden’ ein. Seine nichtjüdische Ehefrau ersparte ihm das Schlimmste und ermöglichte dem Sohn den Schulbesuch wenigstens bis 1943.
Etwa 1975 traf ich auf einem internationalen Kongreß einen Engländer, der mir erzählte, daß er als RAF-Pilot an Flügen gegen Berlin beteiligt war. Ich sagte ihm, daß ich dabei von unten auf ihn geschossen habe. „It has been quite hot above Berlin“ war sein Kommentar. Und wir waren beide froh, daß keiner den anderen getroffen hatte. Wir fanden uns nämlich sehr sympathisch.
Prof. Dr. Kurt Franke,
Jg. 1926,
1964 bis 1991 Chefarzt der Chirurgischen Klinik im Städtischen Krankenhaus Berlin-Pankow,
Sporttraumatologe („Knie-Franke“)
jg. Veröffentlichungen:
Chirurg am linken Ufer der Panke (Erinnerungen, 2002),
Jüdische Ärzte in Berlin (mit Anneliese Franke, Helle Panke, 2003),
Moritz Katzenstein (2006, Bd.35, Jüdische Miniaturen)
Lasst uns doch alle gesellschaftlichen Systeme ... zu allererst draufhin untersuchen, ob sie ohne Krieg auskommen.
Bertolt Brecht, 1951