„Der Bürger steht im Mittelpunkt – und damit im Weg.“
Wir in Reinickendorf • 04/2008
Kritische Geister - gestern und heute
Die Bernstorffstraße ist inzwischen wieder seine Heimat, in Rufweite zur Gorkistraße bzw. Alt-Tegel, der ersten Berliner Fußgängerzone. Lutz M. Böttcher, Gründer der „Bürgerinitiative für mehr Lebensqualität in Tegel“ (B.L.I.T.) testet die Grenzen der Bürokratie, ist streitbar – nimmt seine demokratischen Rechte wahr. Sehr zum Unwillen der im Bezirk politisch Verantwortlichen.
WiR stellt ihn vor, beleuchtet das Engagement des Bürgers Böttcher.
Fortgehen um wiederzukommen
Vornehmlich beruflich bedingt verschlug es ihn 1977 von Berlin ins Bergische Land - ein Koffer stand aber immer in der Heimatstadt. Groß geworden gegenüber dem Tegeler Straßenbahnhof, war das Leben in einem kleinen Ort bei Köln „immer auch irgendwie wie Urlaub“. Das Häuschen im Grünen wog aber die Nachteile, die mangelnde Infrastruktur, für geborene Großstädter nicht auf. So ging es Anfang des neuen Jahrtausend zurück zu den Wurzeln nach Tegel, in die 1977 umbenannte Bernstorffstraße. Bereut hat die Familie es nie.
Veränderungen
Zurück kam ein Mensch im „fortgeschrittenen Lebensalter“, der manches nun mit kritischeren Augen sieht, auch aus dem Blickwinkel der materiellen Unabhängigkeit. So bemängelt Lutz Böttcher die Verlotterung der Sitten im öffentlichen Straßenbild, die Verschmutzung und Zerstörung in Bussen und Bahnen, Straßen und Gebäuden, vermisst die Präsenz von Ordnungshütern und Polizei. „Auch in Tegel muss man inzwischen überlegen, wo man wann hingeht“. Zunehmende Gewalt und die Gefahr, die von der Rechten ausgehen kann, registriert er besorgt und kritisiert die gewählten Politiker, die diese Entwicklung durch teils persönliche Unglaubwürdigkeit mit zu befördern.
Kritischer Geist
Als Anlieger und als Bürger nutzt er den demokratisch-politischen Raum um (nicht nur) seine Interessen zu vertreten, sucht Mitstreiter und Verbündete – allein dies ist schwer genug. Oft genug stößt er auf bürokratische Widerstände, auf „Politiker, die auf ihren Futtertrögen sitzen“, stößt auf die „Arroganz der Macht“, fühlt sich als „Bürger, der im Mittelpunkt von Politik steht – und damit im Weg“.
Sein Engagement für eine grundsätzlich veränderte Verkehrsführung und Verkehrsberuhigung in Tegel, ein umweltverträgliches Gesamtkonzept für den öffentlichen Nahverkehr, die Parkraumbewirtschaftung sowie der rechtlichen Anwendung des Straßenausbaubeitragsgesetzes durch das Bezirksamt. lässt ihn an Grenzen stoßen, wütend aber auch hartnäckig werden. Vorwürfe, er bediene sich der Polemik und argumentiere populistisch, werden genutzt, um konkrete und konstruktive Kritik abzuwehren. Betroffene werden nicht einbezogen, verbindliche Antworten auf Fragen sind selten, „Probleme werden ausgesessen. Wenn Politiker mir versprechen, sie kümmerten sich, heißt dies in der Regel, ich höre nie wieder etwas von ihnen“.
Unglaubwürdige Politik
Fehlende Sachkenntnis, abwiegelnde Zuständigkeitsverweigerung, gepaart mit bewusster Augenwischerei sind für ihn wesentliche Gründe für die vielbeschworene Politikverdrossenheit vieler Wähler. Auch für Lutz Böttcher macht sich die Politik zunehmend unglaubwürdig. Konzeptlosigkeit lautet sein Vorwurf, „rin inne Kartoffeln, raus aus de Kartoffeln“ - so gehe es doch nicht, werde Engagement nicht befördert, leide die Demokratie. „Dann dürfen sich die Politiker nicht wundern, wenn Wähler radikale Parteien wählen, dort ihre Interessen vertreten sehen“. Es müsse auch mehr in Bildung und Ausbildung investiert, verstärktes Augenmerk auf Erziehungsfragen gelegt werden.
Keine Illusionen
Politisch aktiv war er ja auch schon – in der SPD. Aber das ist lange her. Inzwischen ist er enttäuscht. „Nein“, sagt Lutz Böttcher, „ich bin keine Linker, eher ein Kalter Krieger. Nur das Herz sitzt noch links.“ Aber reden tut er schon mit, der „anderen“ LINKEN, stößt da nun wieder auf Unverständnis im Bekanntenkreis. „Die kriegen große Augen, wenn ich denen erzähle, dass die LINKEN mir wenigstens zuhören und versuchen, meine Anliegen im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu unterstützen“. Zeit hat er nun sich einzumischen, ist im Rentenalter, „macht ja auch Spaß“, Illusionen hat er aber nicht. „Das Bergische Land war ja schon tiefschwarz, Vetternwirtschaft allgegenwärtig. Aber was ich hier in Reinickendorf erlebe, ist schlimmer“. Die Vorgänge der jüngsten Zeit in Rathaus und BVV geben wenig Anlass zur Hoffnung ... aber er wird weitermachen, unbequem sein, Fragen stellen, sich einmischen.
Es gibt sie also noch - die (im besten Sinne) Bürgerlichen, die Vorurteile und Scheuklappen ablegen, sachorientiert ihre Interessen vertreten und demokratische Strukturen mit Leben füllen, sich von destruktiver Bürokratie nicht entmutigen lassen. Gäbe es deren mehr, müsste einem nicht bange sein.
Jürgen Schimrock
Bernstorff, Johann Heinrich Andreas Hermann Albrecht Graf von
geb. am 14. November 1862 in London,
verst. am 6. Oktober 1939 in Genf;
Jurist, Diplomat und Opfer des NS-Regimes.
Bernstorff studierte in den USA, war 1890 als Attaché des Deutschen Reiches in Konstantinopel, 1903 Botschafter in London, ab 1906 Generalkonsul in Kairo. Von 1908 bis 1916 vertrat er das kaiserliche Deutschland in Washington, bemühte sich dort vergeblich, den Kriegseintritt der USA in den Ersten Weltkrieg zu verhindern, und war danach Botschafter in Konstantinopel. Graf Bernstorff war Ehrenvorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), Abgeordneter im Deutschen Reichstag und Präsident der Deutschen Liga für den Völkerbund. 1933 musste er in die Schweiz emigrieren.