Glücklicher wäre ich, wäre die Tafel überflüssig
Wir in Reinickendorf • 11/2009
Ein Gespräch mit Superintendentin Beate Hornschuh-Böhm, Kirchenkreis Reinickendorf
Frau Hornschuh-Böhm, im Kirchenkreis Reinickendorf wird eine umfangreiche und vielseitige Sozialarbeit geleistet. Welche Entwicklungen zeigen sich dabei?
Der Bedarf an Hilfe für in Not geratene Menschen steigt. Wir haben 2004 in Zusammenarbeit mit der Berliner Tafel Stellen eingerichtet, wo Hartz-IV-Empfänger und andere Bedürftige einmal in der Woche zusätzliche Lebensmittel gegen einen Euro kaufen können. Hier in Alt Wittenau hatten wir damals 40 bis 50 Ausgaben, heute sind es etwa 300. Ich bin den vielen Helfern sehr dankbar, die das ermöglichen, und bin stolz auf sie. Aber glücklicher wäre ich, wäre die Tafel überflüssig.
Das höhere Ziel unseres christlichen Engagements sollte es sein, dass Menschen mit ihren Begabungen selbst für ihr Leben sorgen können oder so versorgt sind, dass sie in Würde leben und an der Gesellschaft teilhaben können.
Zur Bedürftigkeit kommt eben oft noch soziale Vereinsamung hinzu. Das beginnt manchmal schon damit, dass Kinder die Einladung zum Geburtstag eines anderen Kindes nicht annehmen, weil sie kein Geschenk mitbringen können. Wir bitten übrigens gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit vor Kaufhallen, „kauf eins mehr“ (und gib es uns für die Tafel), damit Menschen etwas Zusätzliches zum Verschenken haben.
Im Mittelalter gab es einmal die Vorstellung, wir brauchen die Armen, damit die Reichen an ihnen Gutes tun können. Das klingt zynisch, aber vielleicht konnte man sich damals nicht vorstellen, dass Armut vermeidbar ist.
Ich halte es für möglich und notwendig. Nach dem biblischen Menschenbild, das uns leitet, ist der Mensch das Ebenbild Gottes, ihm gebühren Achtung und Respekt, er ist an Leib und Leben unantastbar. Dafür muss er nichts tun, es gebührt ihm, weil es ihn gibt. Davon abgeleitet ist die Frage, wie Menschen miteinander umgehen sollen für ein friedvolles und gerechtes Zusammenleben; der Leitfaden sind die zehn Gebote. Es ist übrigens interessant, dass in der Bibel die Gerechtigkeit vor dem Frieden steht, weil Gerechtigkeit die Vorbedingung des Friedens ist.
Gerechtigkeit beginnt mit den Chancen der Kinder, später einen geachteten Platz im Leben einzunehmen. Nach der Statistik wird Armut jedoch verstärkt erblich.
Sozialarbeiter und Religionslehrer, besonders aus dem Märkischen Viertel, sagen mir, die Zahl von Kindern nähme zu, die auf sich allein gestellt sind, die ungefrühstückt zur Schule kommen und kein Pausenbrot mitbringen. Viele hätten Schwierigkeiten sich auszudrücken, weil daheim zu wenig mit ihnen gesprochen wird. Da ist das Problem, den Eltern zu helfen, den eigenen und den Alltag der Kinder zu strukturieren. Unsere Diakonie hat die Aktion „Familie und Nachbarschaft“ aufgenommen, die wohl vom Senat ausgeht. Dabei werden mehrere junge Familien eingeladen, um mit ihren Kindern einen gemeinsamen Abend vorzubereiten und zu verbringen.
Andererseits müssen die Kinder auch schon einen besseren Start in die Schule bekommen.
Ich bin kein Fan der aktuellen Vorhaben für Steuersenkungen und Kindergelderhöhung. Wenn wir Milliarden freischaufeln können, sollten wir sie in die Bildung stecken. Und die neuen Kindergeldregelungen, fürchte ich, helfen nicht vor allem den Kindern, die es am nötigsten haben. Dazu gehörten auch freies Schulessen, freier Zugang zur Bibliothek oder zur Schwimmhalle.
Wenn unsere Gesellschaft nicht allen unseren Kindern das Gefühl gibt, dass sie geliebt und bejaht werden, wie soll dann die Zukunft aussehen?
Für das Gespräch bedankt sich Hans Schuster
Der Kirchenkreis Reinickendorf umfasst über 70 000 Gemeindeglieder in 19 Gemeinden und entspricht flächenmäßig dem Bezirk Reinickendorf.
Neben der Seelsorge leistet der Kirchenkreis umfangreiche Sozialarbeit. Es gibt mehrere Diakoniestationen und kirchliche Altenpflegeeinrichtungen.
Ein Schwerpunkt ist die Kinder- und Jugendarbeit. Ein Kreisjugendkonvent wurde gegründet, der die Jugendarbeit der Gemeinden vernetzt und zentrale Aufgaben für die Jugendarbeit wahrnimmt.
Die Gemeinden im Kirchenkreis unterhalten sechs Lebensmittel- Ausgabestellen „Laib und Seele“ für Bedürftige. In Hermsdorf werden fünfmal in der Woche zwölf Übernachtungen für Wohnungslose angeboten.
Eine große Rolle spielt die Arbeit mit den Häftlingen der Justizvollzugsanstalt Tegel.
Zentrale Aufgaben des Kirchenkreises sind in der Arbeitsstelle für Gemeindeberatung zusammengefasst, die zugleich dem Kirchenkreis zuarbeitet und die Tätigkeit der Gemeinden unterstützt. Die Arbeitsstelle umfasst u.a. die Arbeitsgebiete Gemeindeberatung, Arbeit mit Kindern und Jugendarbeit, Kita-Fachberatung und Seniorenarbeit.