Schulstrukturreform in Reinickendorf

Wir in Reinickendorf • 1/2010

Beendet die CDU „schulpolitische Geisterfahrt“?

Die LINKE und die SPD haben sich auf eine grundlegende Schulreform in Berlin verständigt. Kern der Reform ist die Errichtung einer neuen „integrierten Sekundarschule“ anstelle der Haupt-, Real- und Gesamtschule und die Entwicklung einer neuen Lehr- und Lernkultur. Mit der Reform wird das gegliederte, auslesende Schulsystem aus Kaisers Zeiten endlich überwunden. Jedes Kind soll damit unabhängig von seiner Herkunft die besten Bildungschancen und individuelle Förderung erhalten.

Jürgen Schimrock sprach für WiR mit Dr. Donoso Mantke, dem schulpolitischen Sprecher der SPD-Fraktion in der BVV Reinickendorf.

Herr Dr. Donoso Mantke, wie bereiten sich die Schulen, Eltern, Schüler in unserem Bezirk auf die Reform vor? Wie werden die demokratische Interessenvertretungen in den Reformprozess einbezogen?

Schon lange war bekannt, dass sich die alte Dreiteilung in der Sekundarstufe I – also die Untergliederung in den Klassen 7 bis 10 nach Haupt- und Realschule oder Gesamtschule und Gymnasium – in der Vergangenheit nicht mehr bewährt hat. Dies haben auch zahlreiche Studien von nationalen und internationalen Bildungsexperten belegt. Ein auf Auslese statt Förderung gerichtetes und gegliedertes Schulsystem benachteiligt Kinder und Jugendliche insbesondere aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Familien. Die negativen Folgen eines derartig aus-gerichteten Schulsystems traten bisher am offensichtlichsten in der Hauptschule auf, in der systembedingt die leistungsschwächsten und sozial am meisten benachteiligten Jugendlichen konzentriert werden. Trotz des hohen Engagements der Lehrer ist es dort nicht gelungen, den Kindern und Jugendlichen das Gefühl zu nehmen, sie seien Mitglieder einer “Restschule” und somit gesellschaftlich abgehängt und ausgegrenzt. Ein derartiges Gefühl wirkt sich negativ auf die Motivation, das Selbstwertgefühl und die soziale Kompetenz der Jugendlichen aus. Die Krise der Hauptschule ist in erster Linie eine Krise des bisherigen Schulsystems, was zu einer mangelnden gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Schulart geführt hat. In Berlin wurden weniger als sieben Prozent der Sechstklässler an dieser Schulart in den vergangenen Jahren angemeldet. Zweifelsohne müssen die Hauptschulen abgeschafft werden, aber das alleine reicht nicht aus! Wenn wir wollen, dass alle Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit erhalten sollen, den ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechenden bestmöglichen Schulabschluss zu erreichen – und zwar unabhängig von ihren familiären und sozialen Umständen... Wenn wir wollen, dass Schüler in heterogenen Gruppen lernen, so dass Begabungspotenziale mobilisiert werden, Lernschwierigkeiten beseitigt und die Lust auf Bildung gefördert werden... Wenn wir mehr individuelle Förderung in den Mittelpunkt des Unterrichtes stellen und die Jugendlichen schon frühzeitig auf das Berufsleben vorbereiten wollen, dann bietet die neue Schulstrukturreform all das. Sie ist die Voraussetzung für gute Bildungs-chancen für alle, bessere Schulabschlüsse und eine höhere Qualität der Berliner Schulen. Berlin wird damit eine Vorreiterrolle bundesweit übernehmen, und ich freue mich, dass am vergangenen Donnerstag der Bildungsausschuss im Abgeordnetenhaus die Gesetze zur Schulreform an-genommen hat.

Leider Gottes hat die CDU in unserer Stadt lange versucht, diese Reform zu torpedieren. Hier haben wir insbesondere in den CDU-regierten Bezirken – so auch in Reinickendorf – viel Zeit verloren für die notwendigen Planungen zur Umsetzung der Reform, da dies durch die zuständigen CDU-Bildungsstadträte blockiert wurde. Da lange Zeit für die Schulen in Reinickendorf nicht geklärt war, ob die Schulstrukturreform in unserem Bezirk mit dem Schuljahr 2010/2011 beginnen darf oder erst verzögert mit dem Schuljahr 2011/2012 – dies war noch die Entscheidung von Frau Schultze-Berndt (CDU) auf der bezirklichen Schulleitersitzung vom 25.11.2009 – haben wir zur Zeit einen sehr heterogenen Vorbereitungsstand zur Umsetzung der Reform an den Reinickendorfer Schulen. Idealerweise – und in anderen Bezirken ist dies der Fall – sollten die Schulen bereits jetzt im Januar 2010 ihre Konzeptionen zu den Themen Ganztagsbetreuung, individuelles Lernen, Duales Lernen für einen erfolgreichen Übergang ins Berufsleben und Kooperation mit entsprechenden Partnern erstellt haben, so dass sie den Eltern für die Anmeldungen zum nächsten Schuljahr die nötigen Informationen geben können. Danach erstellen die Schulen einen Umsetzungsplan für die Organisation der neuen Schulart, für die Unterrichtsgestaltung und für die Organisation des Ganztagsbetriebes, eventuell in Absprache mit ihren Kooperationspartnern. Der gesamte Prozess wird fortlaufend durch Lehrerfortbildungen und Prozessberatungen für die Schulen durch eigene Schulentwickler oder externe Prozessberater unterstützt. Allein für die Umsetzungsphase stehen insgesamt 10 Mio. Euro zusätzlich zur Verfügung. Selbstverständlich sollten bei den Konzeptionen und Umsetzung der Reform an den neuen Schularten die Gremien wie Bezirksschulbeirat, Bezirkselternausschuss und die Schulkonferenzen der beteiligten Schulen miteingebunden werden. Die Partizipation aller Betroffenen ist auch hier ein wichtiges Instrument, wenn wir wollen, dass die Schulstrukturreform an Akzeptanz gewinnen soll.

Doch zuerst muss der Bezirk Reinickendorf seine Aufgaben hierzu erfüllen. Was wir bisher immer wieder in der Bezirksverordnetenversammlung gefordert haben, hat sich bisher kaum oder nur unzureichend erfüllt. Wir benötigen für eine gute Planung und Umsetzung der Reform eine Analyse des bezirklichen Schulnetzes, eine Bewertung der Schulstandorte, Bilanzierung der Bedarfe unter Berücksichtigung der pädagogischen Profile. Auch müssen die Schülerzahlentwicklungen bis 2018 prognostiziert und bewertet sein, um diese mit den Standortkapazitäten abzugleichen. Die Schulen müssen bei der Entwicklung ihrer Konzeptionen voll unterstützt werden und der Umsetzungs-prozess muss auch durch die politisch Verantwortlichen in unserem Bezirk unter Beteiligung der o.g. Gremien positiv begleitet werden. Da sehe ich immer noch einen mangelnden Willen und Nachholbedarf.

Was verändert sich in Reinickendorf zum Beginn des nächsten Schuljahres konkret?

Diese Frage ist schwer zu beantworten, da wie gesagt der Vorbereitungsstand zur Umsetzung der Reform an den Reinickendorfer Schulen bedingt durch die bisherige Blockadehaltung der Schul-stadträtin sehr unterschiedlich ist. Im Augenblick stellt sich die Situation so dar, dass die Reinicken-dorfer Hauptschulen am weitestgehende Konzeptionen darlegen können und bereits zum Schuljahr 2010/2011 die Reform umsetzen wollen. Die Realschulen befürworten eher einen Start der Reform zum Schuljahr 2011/2012, während die Gesamtschulen (Max-Beckmann- und Bettina-von-Arnim-Oberschule) hier geteilter Meinung sind. Für die Thomas-Mann-Oberschule ist seitens des Schulamtes vorgeschlagen worden, diese gut funktionierende Gesamtschule in ein Gymnasium umzuwandeln. Von diesem Vorschlag halte ich bei dem gegenwärtigen Planungsstand nicht viel, da wir hier durch die Übernahme der guten Erfahrungen einer Gesamtschule, in einer Sekundarschule auf Bewährtes zugreifen könnten. Auch werden eine wirkliche Entlastung der Gymnasien damit längerfristig nicht erreicht und andere Schularten zumindest zeitweise stärker belastet. Es macht keinen Sinn hier über einzelne Schulen Entscheidungen herbeiführen zu wollen, wenn das Gesamtkonzept noch nicht steht. Als einzige Schule hat die Albrecht-Haushofer-Oberschule einen Gesprächsbedarf zur Schulstrukturreform angemeldet.

Wie wird der Gefahr begegnet, dass die Hauptschulen – in unserem Bezirk zumeist ohne Partner - nur ihr Türschild austauschen?

Unsere Hauptschulen genießen berlinweit einen besseren Ruf als man glauben mag, was berufsorientiertes und praxisbezogenes Lernen angeht, und haben bereits jetzt schon diesbezüglich gute Partnerschaften zu Betrieben. Durch das Duale Lernen soll allen Schülerinnen und Schülern an den Sekundarschulen und Gymnasien eine sinnvolle Verknüpfung von schulischem Lernen und Lernen am Praxisplatz angeboten werden. Dabei können die Schulen auf vielfältigste Weise mit entsprechenden Partnern eng kooperieren, so z.B. mit Betrieben, Berufsschulen, Oberstufenzentren oder anderen Trägern der Berufsvorbereitung und Ausbildung. Das bedeutet, dass sich die Schulen hier stärker nach außen öffnen werden und die Zusammenarbeit mit derartigen Partnern gestalten. Die Schulen entscheiden völlig eigenverantwortlich, welche Kooperationen für ihre Schüler in ihrem Umfeld sinnvoll sind und wie sie das Duale Lernen in der Praxis organisieren. Hier können wir von den Erfahrungen der Hauptschulen profitieren.

„Schulpolitische Geisterfahrt“ beendet?

Die Bezirksbürgermeister hatten sich im RdB für eine einheitliche Einführung der Schulreform mit dem Schuljahr 2010/2011 ausgesprochen. Die Bildungsstadträte der CDU-geführten Bezirke Reinickendorf, Spandau und Tempelhof-Schöneberg haben sich lange dagegen gesträubt und für Verunsicherung gesorgt. Die „Berliner Zeitung“ nannte sie deshalb „Bezirkspolitiker der seltsamen Art“, die genau das Gegenteil dessen tun, wofür sie Verantwortung tragen. Im Dezember haben sie - wie auf Kommando - eingelenkt.

Was hat Schulstadträtin Schultze-Berndt (CDU) zu ihrem „Sinneswandel“ veranlasst, den Schulen „freie Hand“ zu geben. Stiehlt sie sich damit nicht wiederum aus ihrer Verantwortung?

Die erste Teilfrage müssten Sie eigentlich Frau Schultze-Berndt stellen. Ich persönlich denke, dass die CDU letztendlich vor dem Druck der Mehrheit in dieser Stadt zu diesem politischen Thema schlichtweg eingeknickt ist. Man hätte sonst politisch Verantwortung übernehmen müssen für einen kaum abzuwendenden Imageschaden, den man bei Nichteinführung der Reform in einem der CDU-geführten Bezirke erlitten hätte. Auch hätte man es den Eltern und Schülern nur schwer erklären können, warum man ihnen die Chance auf verbesserte Rahmenbedingungen und damit die Aussicht für bessere Schulabschlüsse verwähren wollte. Zu ihrer zweiten Teilfrage gibt es von mir ein eindeutiges „Ja“. Dadurch dass Frau Schultze-Berndt den Startzeitpunkt der Reform für jede Schule in die Hände der einzelnen Schule mit ihren Gremien und der fachlichen Bewertung der Schulaufsicht legt, entzieht sie sich ihrer Verantwortung. Die Politik in unserem Bezirk darf die Schulen in ihren Umsetzungsprozessen nicht alleine lassen, wir müssen hier die Rahmen-bedingungen schaffen und wir müssen dies auch tatsächlich unterstützen wollen! Eine politische Willensbekundung seitens der zuständigen Dezernentin fehlt hierzu, genauso wie ausreichende Kommunikation mit den Beteiligten und planerischen Konzepte. Um den Schulen und Eltern im Rahmen einer besseren Planung und Beratung zu helfen, hätte ich mir einen gleichzeitigen Startzeitpunkt aller Reinickendorfer Schulen gemeinsam mit anderen Bezirken und unter gleichen Bedingungen gewünscht.

Die „integrierte Sekundarschule“ orientiert sich nicht wenig am Leitbild und Selbstverständnis der Gemeinschaftsschulen als „einer Schule für alle“. Mit der Schulreform wird auf Beschluss des rot-roten Senats die Pilotphase der Gemeinschaftsschule, an der sich inzwischen 23 Schulen beteiligen, fortgesetzt und ausgeweitet. Bisher ist Reinickendorf in der Frage noch ein weißer Fleck.

Welche Chancen/Voraussetzungen sehen Sie für Reinickendorfer Schulen, sich an dem Pilotprojekt zu beteiligen? Wie kann der Schulausschuss helfen, Informationen über die Gemeinschaftsschule zu verbreiten, und Schulen in unserem Bezirk zur Teilnahme an dem Pilotprojekt ermuntern?

Als man 2008/2009 die Idee der Gemeinschaftsschule entwickelte und auf den Weg brachte, war klar, dass diese Schulform erheblich mehr Arbeit für die Lehrkräfte bedeuten würde, da die Gemeinschaftsschule auf individuelles Lernen im differenzierten Unterricht in den Klassen (1 bis 10 und ggf. sogar bis zur Klasse 12/13) und den Lerngruppen in allen Fächern und/oder Lernbereichen anstelle der äußeren Leistungsdifferenzierung setzt. „Eine Schule für alle“ ist selbstverständlich ein starkes Modell, dasChancengleichheit und hohe Leistungsfähigkeit gleichermaßen ermöglicht. Auch hierzu müssen die politisch Verantwortlichen in Reinickendorf ihren Willen zeigen. Ich kann natürlich nicht für den Schulausschuss als Ganzes sprechen, aber ich denke wir sollten alle Bestrebungen hierzu nach Möglichkeit unterstützen, dass das Modell Gemeinschaftsschule ausgeweitet und bei den Schulen für eine Teilnahme an der Pilotphase geworben wird, um die Auflösung des gegliederten Schulsystems zugunsten eines sog. inklusiven Schulsystems auf den Weg zu bringen.

Vielen Dank, Herr Dr. Donoso Mantke.