„Damit der Mensch lang lebt ...“

Wir in Reinickendorf • 6/2010

Lidice: Gedenken muss gepflegt werden
von Werner Wüste

Die Fakten sollten wohl bekannt sein. Sind sie es?

September 1941. SS-Obergrup­penführer Heydrich wird Chef der Sicherheitspolizei in der von Deutsch­land okkupierten Tsche­chos­lowa­kei. Bereits nach kurzer Zeit hat er tausende Verhaftungen und Hinrichtungen zu verantworten. Ohne Gerichtsverhandlungen. Morde. Ende Mai 1942 wird auf Heydrich ein Attentat verübt. Er stirbt an den Folgen.

10. Juni 1942. An dem Dorf Li­dice wird sein Tod „vergolten“. In der „amtlichen“ Bekanntmachung der Nazis ist zu lesen: „... sind die männlichen Erwachsenen1) erschossen, die Frauen in ein Konzentrationslager überführt und die Kinder einer geeigneten Erziehung zugeführt worden. Die Gebäude des Ortes sind dem Erdboden gleichgemacht und der Name der Gemeinde ist ausgelöscht worden.“

Alles richtig? Oder falsch? Richtig ist, dass der Tod Heydrichs von der tschechoslowakischen Exilregie­rung in London beschlossen war. Das ist der Fakt. Kein Attentat also, sondern Hinrichtung.

Was heißt „vergolten“?

Und „vergolten“? Das soll nach korrektem Entgeld klingen. Die Hinrichtung eines Massenmörders mit Massenmord bezahlt?

Und die Kinder? Von den 105 Kin­­dern von Lidice starben 82 in Chelm­no; sie wurden in präparierten LKW durch Abgase erstickt. Sechs starben in einer Säuglingsanstalt. „...einer geeigneten Erziehung zugeführt“. Nur 17 kehrten nach Hause zurück.

Und der Name der Gemeinde? Der war nicht auszulöschen. Im Sommer 1947 wurde unweit des niedergebrannten Orts der Grundstein für die ersten Häuser des neuen Lidice gelegt. Und im Juni 1955 wurde hier ein „Park des Friedens und der Freundschaft“ eröffnet. Mit Tausenden Rosenstöcken aus aller Welt.

Schon 1942 nannten sich weltweit zahlreiche Ortschaften um, in Brasilien und Mexico, in den USA und in Peru, Venezuela, Kuba und Israel. Dass nie vergessen werde, was dieser Name bedeutet.

Reinickendorfer Arbeitskreis Lidice

In Reinickendorf ist Lidice in lebendiger Erinnerung; dank Ernst Froe­bel, der aus der Tradition der So­zialdemokratie und des antifaschistischen Widerstands kam, der den „Arbeitskreis Lidice“ gründete und die ersten Kontakte zu dem neu errichteten Ort knüpfte; dank auch Helmut Walz und Andreas Raue, die heute die Tradition des Arbeitskrei­ses fortführen; dank des Engagements so mancher Lehrer.

Ernst Froebel und Gleichgesinnte pflanzten 1994 im „Park des Friedens“ die ersten 50 Rosenstöcke. Ein Jahr danach war er der Initiator für das Rosenbeet von Lidice im Rat­hauspark Reinickendorf, das seitdem von Schülern der Berta-von-Suttner-Schule und der Gustav-Frey­tag-Schule regelmäßig gepflegt wird. Er erhielt das Bundesverdienst­kreuz und wurde Ehrenbürger von Lidice.

Die Rose als Symbol des Gedenkens

2008 fand eine der Schülerinnen dieses schöne Bild: „Anders als ein Denkmal aus Stein ist die Rose eine lebendige Pflanze, die gepflegt werden muss, ebenso wie das Gedenken an Lidice und seine Einwohner.“

Wehrmachtssoldaten waren zu Kindermördern geworden. Der bedeutende tschechische Lyriker Vi­tezs­lav Nezval mag auch an diese Kin­der gedacht haben, als er sein großes Poem schrieb: „Ich sing´ den Frieden“. Die Anfangsverse kann ich noch aus dem Gedächtnis zitieren:

Damit der Mensch lang lebt,
dass froh der Hirt den Krug
voll Milch genieße,
den Fischen nicht der Fluss ausfließe
in meinem Dorf und an­derswo,
sing ich den Frieden.
Damit das Bild am Nagel hält,
den Rem­­brandt selbst
noch eingeschlagen ...“

Inschrift am Rosenbeet für Lidice im Rathauspark:

Deutsche, Ihr sollt es wissen, Entsetzen, Scham und Reue ist das Erste, was not tut.“

Thomas Mann



Die Tränen kommen ihnen von alleine...

Wir in Reinickendorf • 6/2010

WiR sprach mit Helmut Walz und Andreas Raue über ihr Engagement im Arbeitskreis Lidice.

Stichworte: Wie erreicht man die jungen Leute? Und was erreicht man bei ihnen? Und wie nachhaltig? Und wie ist das mit der Routine? Zugespitzt: Alle Jahre wie­der ein paar Rosen und eine Re­de, die niemandem weh tut? Weit zurück das Jahr 1942, weit weg der Ort Lidice?

Gefährliche Routine

„Ja, Routine ist eine ständige Ge­fahr, die sehen wir auch. Und die ist tödlich...“ Aber dann erzählen sie. Angefangen hätten sie mit zwei Klein­bussen, die sie selbst fahren konnten, bald aber wuchsen die Teil­neh­merzahlen, und im Laufe der Jahre wurden es schließlich mehr als 300, die mit ihnen in Lidice waren. Lehrer seien ihre Verbündeten. Und die Zeitzeugen.

Mila Kali­bo­va zum Beispiel, die zweitjüngste der nach Ravensbrück Verschleppten, sie spricht gut deutsch und ohne Pathos, mit ihr sind wir gut befreundet, sie ist ein Schatz, diese Frau, „sie drückt nicht auf die Trä­nendrüsen“, die Tränen kämen den Schülern von alleine, sie ist im­mer wieder dabei mit ihren inzwi­schen über 80 Jahren, sie beeindruckt die Schüler sehr...

Ideensuche und Erfolge

Man muss beharrlich nach neu­en Ideen suchen, Rezepte gibt es nicht; das ist das einzige Rezept. Aber die jungen Leute wachsen ja nach, es sind im­mer wieder neue. Zumindest haben wir erreicht, dass mehr als 300 Jugendliche sich mit dem Rechtsra­di­kalismus auseinandersetzen. Da stellt sich doch ein Erfolgsgefühl ein, der Sache wegen...

Seltsamerweise haben wir über denkbare Parallelitäten nicht gesprochen. Diese Fragen seien hier nachgereicht: Was hatte denn die Wehrmacht in der Tschechoslowakei zu suchen, was in Polen, in der Sow­jetunion? Was treibt heute die Bundeswehr nach und in Afghanistan?

Wir sind uns einig: Gedenktage sollen Aufforderung zum (Nach)Den­ken sein. Klarheit über die Ursachen von Untaten zu finden ist lebenswichtig!

Denn erst wenn diese erkannt sind, ihr Wiederentstehen dauerhaft verhindert wird, ist der Sinn solcher Gedenktage erfüllt.

Das Gespräch führte Werner Wüste.