Jetzt reden wir!
Wir in Reinickendorf • 6/2010
Misshandlungen, Demütigungen und Missbrauch -
Ehemalige Heimkinder melden sich zu Wort
2009 wurde die Vereinigung der Heimkinder Deutschland e.V. von dem ehemaligen Heimkind Margarete Böttcher und ihrem Ehemann Ralph-Alfred Böttcher, von Freunden, Mitstreitern sowie weiteren betroffenen Heimkindern gegründet. WiR sprach mit dem Reinickendorfer Ehepaar.
Margarete und Alfredo, Mitte April hat die erste öffentlichkeitswirksame Demo ehemaliger Heimkinder in Deutschland stattgefunden.
Welche Anliegen hat Euer Verein?
Wir stehen immer auf der Seite der Schwächsten - der Betroffenen, der damaligen Schutzbefohlenen. Diese waren vorwiegend in den 50er bis 70er Jahren von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt in deutschen Heimen durch das dort beschäftigte Personal betroffen.
Unser Verein und wir als Personen versuchen Sprachrohr für diejenigen zu sein, die aus unterschiedlichen individuellen Gründen selbst nicht in der Lage sind, sich öffentlich zu äußern. Sie sind innerlich zerbrochen, behindert, können oder wollen nicht über ihre erschütternden Schicksale reden. Sie sind traumatisier. Viele sind verstorben.
Wir wollen öffentliche Aufklärung und dass die Täterinnen und Täter oder deren Rechtsnachfolger zu dem stehen, was sie den Kindern und Jugendlichen im Rahmen von staatlicher oder konfessioneller Heimträgerschaft angetan haben.
Welche Forderungen habt Ihr an die Gesellschaft und die Politik?
Wir setzen uns für schonungslose Aufklärung der Taten ein. Wir fordern Entschädigungen, Wiedergutmachungen und Schmerzensgelder. Und wir fordern die Aufhebung oder Verlängerung der Verjährungsfristen für sexualisierte Gewalt, bzw. die juristische Anerkennung der Misshandlungen in Heimen als Unrecht in einem Rechtsstaat, als Menschenrechtsverletzungen. Diese verjähren nicht, weil hier die Ewigkeitsklausel greift.
Viele Betroffene haben, auch aus finanziellen Gründen, keine Möglichkeit, sich zu äußern, werden nicht erreicht oder unterstützt. Wir fordern einen Soforthilfefonds, um daraus Aufrufe, Therapien, Reha- Maßnamen und Anlaufstellen für Betroffene zu finanzieren. Es gibt bundesweit ca. 700 000 bis 800 000 Betroffene, manche sagen eine Million.
Im April hat sich ein „Runder Tisch“ konstituiert, der sich mit Misshandlungen und Missbrauch, der sexualisierten Gewalt an Kindernund Jugendlichen in kirchlichen und öffentlichen Erziehungsanstalten befasst. Was kritisiert Ihr daran?
Es sitzen bei 24 Teilnehmern leider nur drei direkt Betroffene mit am Tisch, ein fatales und u. E. kalkuliertes Missverhältnis. Dieser „Runde Tisch“ macht deutlich, dass es auch in dieser Frage eine Zwei- oder Drei-Klassen-Behandlung der geschädigten Menschen gibt. Den großen Aufschrei in der Gesellschaft gab es erst mit bekannt werden der Vorfälle im Canisius-Internat im Januar und Februar 2010, als es um Kinder der Eliten ging. Geplant sind zum nächsten Tagungstermin am 15./16. Juni eine Mahnwache, später eine Großdemonstration in Berlin.
Ihr sprecht von „Schwarzer Pädagogik“, was ist damit gemeint?
Gemeint sind in erster Linie „Züchtigungen“ zu „Erziehungs“zwecken. Diese „Erziehungs“methoden waren zu jener Zeit gesellschaftlich leider weitgehend akzeptiert, das änderte sich erst im Zuge der 68er-Bewegung. Sie betrafen den körperlichen, geistigen und sexuellen Bereich, alles Private, Intime. Sexuelle Übergriffe, psychischer Druck und Gewalt an Schutzbefohlenen waren an der Tagessordnung. Zum Teil waren diese verbunden mit drastischen Strafen, Besen- und Dunkelkammerarrest, Sprechverboten und Arbeitszwang. In konfessionellen Einrichtungen war Zwangsmissionierung weit verbreitet.
Es fehlte oft an pädagogischer Ausbildung. Wenn pädagogische Maßnahmen der Profitlogik unterworfen sind, von materiellem und finanziellem Input abhängen, hat dies Auswirkung auf Betreuung und Erziehung. Wenn mit Heimpflegeeinrichtungen Geld gemacht werden kann, bleiben die Schutzbefohlenen auf der Strecke.
Margarete, Du warst und bist betroffen. Welche Folgen für dein Leben haben die Heimaufenthalte gehabt?
Ich war 16 Jahre lang in verschiedenen katholischen Kinderheimen und hatte schon als Jugendliche Suizidgedanken. Bis heute habe ich posttraumatische Belastungsstörungen und bin in Behandlung.
Es tut mir gut, dass dieses Thema endlich öffentlich wird, dass ich und andere Betroffene nicht mehr ganz sprachlos sind. Seit vielen Jahren versuche ich Akteneinsicht zu erreichen, aber erst seit drei, vier Jahren geht es tatsächlich langsam in Richtung Aufarbeitung.
Wie läuft es heute in den Heimen?
Man kann es sicher nicht mehr vergleichen. Aber, und dies zeigt z. B. ein Gespräch mit Peter (Name geändert), der in den 90er Jahren in Reinickendorf Heimerziehung erlebt hat: Die Qualität in den Einrichtungen hängt wesentlich davon ab, wie sie finanziell ausgestattet werden, von politischen Entscheidungen.
Er berichtet von Misshandlungen, mangelnder Betreuung, emotionalem Druck, zu wenig Förderung. Nicht zuletzt auf Grund fehlenden oder überforderten Personals.
An dieser Stelle muss sich unsere Gesellschaft fragen lassen, was wir bereit sind, aus vermeintlichen Sparzwängen heraus, unseren Kindern und Enkeln anzutun.
Margarete und Alfredo, ich wünsche Euch viel Erfolg und danke für das Gespräch.
Das Interview führte Jürgen Schimrock.