Kennen Sie Einstein?
Wir in Reinickendorf • 11/2010
Würdigung eines kritischen Geistes
von Werner Wüste
Na klar, werden Sie denken; und die Stichworte purzeln Ihnen nur so ins Gedächtnis: Relativitätstheorie; E=mc2; Brief an Roosevelt, in dem E. vor einer möglichen Atombombe der Nazis warnt; und jenes fröhliche Foto von dem Mann, der der ganzen Welt die Zunge heraus steckt... Richtig, alles richtig, aber den meine ich nicht. Ich meine Carl Einstein.
Einigen hundert Reinickendorfern begegnet er täglich, jedenfalls der Möglichkeit nach. Frohnau, Zeltinger Strasse 54, Gedenktafel: Hier lebte bis 1928 der Schriftsteller Carl Einstein. (Nur wenige Jahre später finden wir seinen Namen in der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. Den Hass der Nazis hat er sich redlich verdient. Und er befindet sich hier auch in bester Gesellschaft.)
Der andere Einstein
Wer also war Carl Einstein?
Stichworte: Geboren 1885 in Neuwied. 1907 Reise nach Paris und Freundschaft mit Braque und Picasso. 1914 Kriegsfreiwilliger. November 1918 Mitglied des Zentral-Soldatenrats Brüssel.
Zurück nach Deutschland, nach Berlin. Gemeinsame Arbeit mit Wieland Herzfelde, Zeitschrift „Die Pleite“ im Malik-Verlag und mit George Grosz, „Der blutige Ernst“, Satiremagazin. Leseprobe aus „Die Pleite“ Nr.1: „An die Geistigen! ... Dekorative Schönworte stehlen die Entscheidung. Wir gehen in der Masse, wir sind auf dem Marsch mit den Einfachen, Unbedingten zu einer nahen, nötigen Sache... Wir bedürfen nicht des Originellen. Die Theorie ist gegeben...Der Individualismus ist beendet ... Hinaus die unverbindlich jenseitigen Propheten, schwächliche Apotheker mysthischer Erlösungspillen. ... Das Relative istfutsch ... Revoltiert einmal tatsächlich gegen denBürger, statt ihm Mittel zur Sklavenhalterei in den Kopf zu pressen. Holt nach, was das Proletariat getan ...“ Das war 1919.
In seinem Drama „Die schlimme Botschaft“ (1921), lässt er „Christus von geschäftstüchtigenbürgerlichen Zeitgenossen kreuzigen“ (O-Ton Tanja Frank, Biografin). Er wird vor Gericht gezerrt und, gemeinsam mit seinem Verleger Rowohlt, wegen Gotteslästerung zu einer Geldstrafe verurteilt. Im Saal, quasi als Prozessbeobachter, sitzt Ilja Ehrenburg. Der in seinen Memoiren Einstein einen Romantiker nennt, auf dessen „großem kahlem Schädel ... eine Beule“ prangt. Und in Klammern setzt er: „1945 erlebte ich das zermalmte Berlin. Von dem Gebäude, in dem Carl Einstein verurteilt worden war, stand nur noch eine Mauer, auf die ein russischer Pionier geschrieben hatte, dass das Viertel entmint sei.“
Einsteins eigentliches Interesse aber gehört der Kunstkritik und der Kunsttheorie. 1915 erscheint sein Buch „Negerplastik“. Wenn er nicht der erste war, so doch einer der ersten, die die afrikanische Eingeborenenkunst nicht unter ethnologischen, sondern unter ästhetischen Gesichtspunkten betrachteten. 1926 editiert der Propyläen-Verlag eines von Einsteins Hauptwerken: „Die Kunst des 20. Jahrhunderts“. Auch hieraus eine Leseprobe:
„Picasso entzieht sich in eilendem und wechselndem Erfinden den mühselig nachtrabenden Betrachtungen seiner Biographen und Bewunderer... Er wird selten der A-bergläubige seiner Erfindungen, sondern vermag aus diesen sich zu lösen, sich von ihnen zu entfernen und neue Gesichte zu versuchen. So erscheint sein Leben gebaut wie eine Folge mehrerer Generationen, und darum überlagert der Schatten seines Werkes mehrere Generationen.“
In Reinickendorf und Spanien
In den erwähnten Jahren in Reinickendorf besuchten ihn unter anderen Yvan und Claire Goll, befreundete er sich mit Franz Masereel, begann die Bekanntschaft mit Ilja Ehrenburg und dem Konstruktivisten El Lisitzky, wurde er vertraut mit russischen Emigranten, wahrscheinlich auch mit Wladimir Lindenberg (Siehe WiR 04/2007), mit Max Beckmann (Siehe WiR 11/2007), über den er auch schrieb, hatte er Kontakte zu Elsa Triolet, auktionierte er Aquarelle von Joachim Ringelnatz, verkehrte er mit Meyerhold, Gropius, Kandinsky, Klee.
Einstein nimmt am Spanischen Bürgerkrieg teil, sympathisiert mit den Anarchisten. Das jedenfalls imponiert ihm: „... jeder Kamerad besitzt gleiche Rechte und erfüllt die gleichen Pflichten. Keiner steht über dem andern, jeder soll ein Maximum seinerPerson entwickeln und darbringen. Die militärischen Techniker beraten, doch sie befehlen nicht ... Wir kämpfen nicht als Soldaten, sondern als Befreier. Wir dringen und stürmen vor, nicht um Besitz zu erobern, sondern um die von Kapitalisten und Faschisten Unterdrückten zu befreien.“
Im Spanischen Bürgerkrieg sieht Einstein die letzte Chance, den Faschismus aufzuhalten. Er wird interniert, kehrt zurück nach Frankreich und wählt 1940 den Suicid.
Zeitliche und geistige, auch schicksalhafte Bezüge kommen mir in den Sinn: weil er den Nazis nicht in die Hände fallen will, vollzieht Einstein wie Walter Benjamin, ebenfalls in den Pyrenäen, den Freitod. Er wie große Teile einer ganzen Generation, junge bürgerliche Intellektuelle, meinten mit dem Krieg einen Ausbruch aus der im Formalen und in Ritualen erstarrten, bigotten Welt der Vatermörder und gestärkten Hemdbrüste vollziehen zu können.
Eine große Familie
Jenen, die konsequent blieben im Verlauf der Jahre, gesellten sich Menschen hinzu wie Harald Poelchau (WiR 05/2005) und die Coppis (WiR 06/2005), Poelchau, der als Gefängnispfarrer in Plötzensee manchem von den Nazis zum Tode Verurteilten in dessen letzten Tagen beistand, auch den Coppis. Und ich fühle, wie sie eigentlich alle zusammen gehören, eine große Familie sind ... Und stelle schließlich mit innerer Befriedigung fest: die sich allen humanistischen Ideen und Anregungen offen halten, die bei Freunden und Zeitgenossen die innerliche Verwandtschaft zu erkennen vermögen – für sie ist die Welt ein großes, vertrautes (Reinicken-)Dorf.
Vielleicht ging es Ihnen wie mir: Ich wusste wenig über Carl Einstein. Sollte nun etwa der Eindruck entstanden sein, ich würde mich für einen Einstein-Experten halten, will ich den schnell korrigieren. Eine Annäherung habe ich versucht - und die wollte ich mit Ihnen teilen.