Erich Mühsam? Ja. Unbedingt.

Wir in Reinickendorf • 07-08/2014

Gedanken zu einem Ausnahmepoeten

von Werner Wüste

Wird einer, der, obwohl von Hause her kein Journalist, aber doch schon manchen Artikel geschrieben hat, (zum Beispiel für „Wir in Reinickendorf“), gefragt, ob er nicht zu einem bestimmten Thema schreiben wolle und er kann zwar mit dem angefragten Thema so von ungefähr, sehr von weitem etwas anfangen, mehr aber auch nicht, dann hat er zwei Möglichkeiten: er kann freundlich lächelnd erklären, sich geehrt zu fühlen und ablehnen oder er kann mit leichtem Vorbehalt zustimmen, den Auftrag als Herausforderung ansehen und annehmen, vielleicht noch vage von einem hoffentlich sich ergebenden Zugang zum Thema lispeln und schließlich fragen: Wann? Wie lang?
So etwa, und nur wenig ironisch überspitzt, war mir zumute. Selbstverständlich kannte ich den Namen. Aber nur wenig mehr.

„Was fällt dir wohl bei Mühsam ein?“

„Mühsam? Erich Mühsam? Warte mal. Also: Novemberrevolution. Räte-Republik in Bayern. Boheme. Schriftsteller. Anarchist. Satiriker.
War einmal einRevoluzzer... Von den Nazis mit Hass verfolgt. Und ermordet. Münchener."

„Münchener? Denkste! Mühsam war in Berlin geboren.“

„Ach.“ - - -

Ein fiktiver Dialog. Aber immerhin denkbar. Soll sagen: Viel zu wenig wissen wir über einen Mann, den nicht zu kennen wirklich nicht nur Wissenslücke sondern auch Verlust ist.

Aber warum wissen wir so wenig über Erich Mühsam? Ich gebe ja zu: Mein Wenig-Wissen muß nicht unbedingt ein Wir-Wenig-Wissen sein. Doch Illusionen will ich mir auch nicht machen.

Die Frage könnte auch lauten: Warum hat Mühsam heute so geringe Öffentlichkeit? Er wird kaum zitiert. Wer schon beruft sich auf ihn? Er scheint vergessen. Warum? Hat er das verdient?

Anarchismus nur im Schubfach

Als ich ein junger Bursche war und mein Interesse an gesellschaftlichen, politischen Problemen zu erwachen begann, hatte ich natürlich auch Begegnungen mit dem Begriff Anarchismus, im Alltags-Sprachgebrauch ebenso wie in ernstzunehmender Polemik. Jahrelang definierte sich der Begriff für mich mit dem Bericht über die Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg, die keine, auch keine militärischen Autoritäten anerkannten und gegen Mittag die Front verließen, um zu Hause ihren Teller Bohnensuppe zu essen.

Mit solchen Menschen konnte man unmöglich eine sozialistische Ordnung schaffen – und das wollten wir doch.

Damit hatte ich ein Schubfach eingerichtet: Anarchismus. Und gab mich damit zufrieden. Lange. Viel zu lange. Heute weiß ich: Ich hätte Fragen stellen sollen. Wir hätten fragen sollen. Viele von uns haben viel zu wenig, viel zu spät Fragen gestellt.

Weder hüben noch drüben

Vielleicht hatte Erich Mühsam in der DDR zunächst kaum Öffentlichkeit, weil ihm hier das Etikett Anarchist angehängt worden war, und im Westen nicht, weil es natürlich einfacher war, ihm das Etikett Kommunist zu verpassen. Anarchist, Kommunist, Revolutionär, Antifaschist – auch heute noch ein schwieriges Thema.

Wenn wir also nach Mühsam fragen wollen, müssen wir wohl zuerst nach Anarchismus fragen.

Stichworte.

Philosophisches Wörterbuch, 1931:

Anarchie, Herrschaftslosigkeit; der Anarchismus ist eine Theorie des Gesellschaftslebens, welche den Willen der Einzelpersönlichkeit als allein maßgebend anerkennt, jede soziale Rechtsordnung, Staatsordnung, Obrigkeit verwirft. ...

Stirner, Proudhon ...

P. wünscht an die Stelle der Zwangsgewalt des Staates eine einfache staatenlose Regierung der Vernunft gesetzt.

Proudhon: „Eigentum ist Diebstahl“.

Duden 2006:

Anarchie, Herrschafts-, Gesetzlosigkeit; Chaos in polit., wirtschaftl. o.ä. Hinsicht.

Anarchismus, Lehre, die sich gegen jede Autorität richtet und für unbeschränkte Freiheit des Individuums eintritt.

WIR in Reinickendorf 11/2010:

Einstein (nicht Albert sondern Carl) nimmt am Spanischen Bürgerkrieg teil, sympathisiert mit den Anarchisten. Das jedenfalls imponiert ihm „...jeder Kamerad besitzt gleiche Rechte und erfüllt diegleichen Pflichten. Keiner steht über dem andern, jeder soll ein Maximum seiner Person entwickeln und darbringen. Die militärischen Techniker beraten, doch sie befehlen nicht.“

Michael Benjamin,

indem er über die geistigen Wurzeln der PDS nachdenkt:

Daß beispielsweise die Hervorhebung der Demokratiefrage, der Kampf um soziale Verbesserungen, die Teilnahme am gewerkschaftlichen Kampf und an der Kommunalpolitik, generell das Verständnis von „Sozialismus als Bewegung“ erheblich auf sozialdemokratische Traditionen zurückgehen, ist ebensowenig zu übersehehn wie etwa die anarchistischen Wurzeln der Krititk an der „Verstaatlichung“ der Gesellschaft und die Hervorhebung des menschlichen Idividuums und der Selbstorganisation der Individuen.

Interessant die Vielseitigkeit der Interpretationen und Erklärungen. Abhängig natürlich auch von der Denkweise ihrer Verfasser.

Ein kurzes Kennenlernen

Erich Mühsam also. Hier sehr gedrängt und in großen Sprüngen die Lebensdaten.

Geboren 1878 in Berlin. (Siehe oben!) Wächst auf in Lübeck, wird 1896 „wegen sozialistischer Umtriebe“ vom Gymnasium verwiesen. Apothekerlehre, Apothekergehilfe. Ab 1901 freier Schriftsteller. „Wanderjahre“. Schweiz, Italien. München, Wien, Paris. (Sein Kurzurteil: Paris lebt. Berlin funktioniert.) Schließlich ansässig in München. „Zentralfigur der Schwabinger Boheme“. Versucht, nach Ausbruch des 1.Weltkrieges einen internationalen Bund der Kriegsgegner zu gründen. Sympathien für die Spartakusgruppe. „Prägte als populäre Leitfigur den Verlauf der Revolutionsereignisse bis zur Bayerischen Räterepublik mit.“ 1919 verhaftet, verurteilt: 15 Jahre Festung. Amnestierung. Ab 1924 Berlin. Verhaftung am 28. Februar 1933, am Tag nach dem Brand des Reichstags. 14 Monate Folter und Mißhandlungen. Ermordet von der SS in der Nacht zum 10. Juli 1934. Vor achtzig Jahren also.

(Alle Zitate nach einer Kurzbiografie der Erich-Mühsam-Gesellschaft e.V. Lübeck)

Wie man ihn sah

Alle seine Freunde nennen hieße, eine Liste linker Intellektueller und Zeitgenossen aufzustellen. Alle, die schriftlich Zeugnis gaben von ihrer Achtung für Erich Mühsam, würden eine noch längere Liste ergeben.

Ich zitiere einen der weniger Bekannten. Er sagt in wenigen Sätzen das Wesentliche.

Franz Wilhelm Seiwert:

Erich Mühsam kommt aus dem Volke,dem ein gütiges Geschick den Besitz des „nationalen Vaterlands“ nahm und dem so alle Lande, die Erde, Heimat geworden ist. Er kommt aus dem Volke, aus dem die Propheten, die Heilande, die weisen Rabbi erstanden, aber auch die klugen Astronomen und Mathematiker, die scharf sezierenden Ärzte. Er kommt aus der Stille und Vornehmheit der jüdischen Aristokratenfamilie. Sein Vater ist Apotheker und ist Senator in einer der alten norddeutschen Hansestädte. Der Sohn wird auch zum Apotheker bestimmt. Er ist ein sehr guter Apotheker geworden, allerdings nicht in dem Sinne seines Vaters. Er hat der Gesellschaft manch scharfe Analyse gestellt.

Der Autor: klar und vielseitig

So aussichtslos es ist, ihm und seinem schriftstellerischen Schaffen in Zitaten gerecht werden zu wollen, ein Versuch könnte immerhin die Klarheit seiner Sprache wie auch seine Vielseitigkeit ahnen lassen. 1911 beginnt er einen Aufsatz über Heinrich Mann so:
"Die Gegenwart, in der wir leben, zeichnet sich dadurch aus, daß sie zwischen einer Vergangenheit und einer Zukunft liegt. Das Gewesene lebt noch, das Werdende lebt schon, und das Wirkende, das Gestaltende, der Sinn unserer Tage ist der Kampf zwischen zwei Zeitaltern.“

Zeugnis für Prägnanz und Kürze:
Sich fügen heißt lügen.

Für Sarkasmus:
Mutter Germania gebar in legitimer Ehe mit dem Zeitgeist drei Söhne: den Konfektionsreisenden, den Radfahrer und den Oberlehrer.

Der „Reisebericht“:
Berlin lag mir schon wieder derart im Magen, daß ich ehrlich froh war, als es mir auch im Rücken lag.

Angesichts der Tatsache, daß allein in der DDR schließlich mehrere respektable Bücher über Erich Mühsam erschienen waren – Volk und Welt, Eulenspiegel, Buchverlag Der Morgen, Henschel – mit „Zeugnissen und Selbstzeugnissen“, „Streitschriften und literarischem Nachlaß“, „Unpolitischen Erinnerungen“ und „Bänkelliedern“, muß ich auch resignierend auf den Versuch verzichten, einen Querschnitt daraus zusammenzufassen. Lediglich die folgenden sieben Zeilen mögen dafür stehen, daß Erich Mühsam noch immer, nein, eigentlich wieder aktuell ist; wohl, weil wir inzwischen erneut „vorsozialistische“ Zustände haben.

Ja, Bürger, ja die Erde bebt.
Es wackelt deine Habe.
Was du geliebt, was du erstrebt,
das rasselt jetzt zu Grabe.
Aus Dur wird Moll, aus Haben Soll.
Erst fallen die Devisen,
dann fällst du selbst zu diesen.