Nachdenken über den 8. Mai 1945

Wir in Reinickendorf • 04-05/2015

Ein Offener Brief an die Reinickendorferinnen und Reinickendorfer

Woran denken wir an diesem 8. Mai, dem Tag der Befreiung, wie ihn viele Deutsche erst zu nennen lernten, seit Richard von Weizsäcker ihn im Jahre 1985 so benannt und gewürdigt hatte?

Seither sind 70 Jahre vergangen und nur noch Wenige werden sich daran erinnern können, wie das war in den letzten Kriegstagen im Frühjahr 1945. Ich, Lilo Joseph, erinnere mich noch, wie die Angst mich schüttelte, als ich Tag und Nacht mit unseren Nachbarn im Bunker saß und wir uns nicht hinaus trauten. Mütter hielten ihre minderjährigen Knaben fest, damit sie nicht noch als „Volkssturm-Mann“ in den sinnlosen Kampf geschickt werden. Die bange Frage trieb uns um: Wann endlich hört das alles auf? Und nicht nur gedacht, auch ausgesprochen wurde: Lieber ein Leben lang trocken Brot essen, als noch länger diesen Krieg ertragen!

Hoffen auf das Ende

Die Schlacht um Berlin tobte vom 16. April bis zum 2. Mai. Heftiges Artilleriefeuer, darunter das furchterregende Pfeifen der „Stalinorgel“, eröffnete die sowjetische Offensive und begann, Berlin vom Norden und Süden her zu umzingeln. Bereits einen Tag nach Hitlers Geburtstag, am 21. April, hatte die erste sowjetische Einheit die nordöstliche Berliner Stadtgrenze zwischen Mahlsdorf und Blankenfelde erreicht. In der Nacht zum 22. April war die Rote Armee in Frohnau. Bis auf die Nähe von Spandau war Berlin am 25. April vollständig eingekesselt. Aber was bedeutete das? Noch war der Krieg nicht beendet, noch tobten fürchterliche Kämpfe in der Innenstadt bis endlich am frühen Morgen des 2. Mai die Berliner Garnison den Kampf aufgab und kapitulierte. Doch damit war der Krieg noch immer nicht beendet. Erst in den späten Abendstunden des 8. Mai erklärte die Deutsche Heeresführung „gegenüber dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Expeditions-Streitkräfte und dem Oberkommando der Roten Armee“ die bedingungslose Kapitulation.

Dann noch einmal setzte eine heftige Kanonade ein. Es war der Salut auf den Sieg über den barbarischen, mörderischen, faschistischen Staat, der einen schrecklichen Vernichtungs- und Eroberungskrieg geführt hatte.

Schwur noch nicht eingelöst

Was sollte nun werden? Die meisten empfanden die Kapitulation als Zusammenbruch, als verlorenen Krieg; Benommenheit und Bangigkeit machten sich breit. Erst wenige fühlten sich als Befreite, vor allem jene, die aus den Zuchthäusern, aus den Konzentrationslagern oder aus der Illegalität kamen. Wie Hannah Höch, die von den Nazis als „entartete Künstlerin“ stigmatisiert zum Schweigen verurteilt gewesen war. Endlich konnte sie ihre Kunst wieder zeigen. Umgehend engagierte sie sich in dem schon bald zugelassenen „Kulturbund“ für die Verbreitung humanistischer Werte und Ideen. Ehemals Verfemte, die sich vor Verfolgung und Tod hatten retten können, überwanden ihre einstmals trennenden ideologischen und weltanschaulichen Grenzen und begannen gemeinsam, ein neues, ein antifaschistisches und demokratisches Leben zu organisieren.

Erinnern sollten wir uns am 8. Mai ebenso an den Schwur der Buchenwald Überlebenden, dem sich später ehemalige Häftlinge aus den Lagern in Dachau, Auschwitz, Ravensbrück, Sachsenhausen, Mauthausen und Neuengamme angeschlossen haben: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

Wir erinnern daran, weil heute schon wieder – oder immer noch! - Fanatiker und Panikmacher Zwietracht und Hass verbreiten wollen. Dem müssen wir uns mit Intelligenz und Energie widersetzen. Das Vermächtnis der Opfer bewahrend, setzen wir uns für das friedliche Leben aller Menschen weltweit, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Hautfarbe, Herkunft und religiöser Überzeugung ein.

Blumen zum Gedenken

Den Opfern und unseren Befreiern danken wir, dass sie uns Voraussetzungen für ein besseres, ein demokratisches Leben geschaffen haben.

Als Zeichen unseres Gedenkens bitten wir, am 8. Mai Blumen an den Gedenkstätten und Erinnerungsorten abzulegen und diesen Tag als einen Tag der Befreiung zu feiern!

Reinickendorf am 22. April 2015

Zu den Erstunterzeichnern gehören:

Lilo Joseph,

Marlies Wanjura, BzBm a.D.,

Dr. Hans Coppi, Berliner VVN-BdA,

Detlef Dzembritzki, BzBm a.D.,

Gabriele Thieme-Duske,

Peter Rode im Namen der AG Stolpersteine,

Peter Senftleben, Bezirksstadtrat a.D.,

Helmut Walz, Arbeitskreis Politische Bildung, Vergangenheit – Zukunft e. V.,

Pfarrerin Irmela Orland, Religionslehrerein,

Marianne Reif-Hundt,

Edwin Bolien,

Vera Seidel,

Rainer Heinrich,

Tommy Spree, Anti-Kriegs-Museum,

Bettina Lutze-Luis Fernández,

Nikolaus Klapprott