So ticke ich - Vera Seidel

Schreib doch mal auf, wie du so als Linke tickst, sagte Lutz kürzlich zu mir, meinte wohl, wie du so als ALTE Linke tickst.
Wie ich jetzt so ticke? Das ist wohl das Ergebnis meines Lebens, immerhin 78 lange Jahre.
Also dann:

Vater und Mutter waren kommunistische Widerstandskämpfer. Mein Vater wusste noch von meiner Existenz, ehe er dann Ende 1943 als 999er an der Ostfront „vermisst“ wurde. Er hatte noch zwei Briefe an mich kleinen Wicht geschrieben - so etwas wie ein Vermächtnis. Meine Mutter brachte mich dann in Steglitz über den Krieg. Die Großeltern, auch Kommunisten, zogen zu uns in die kleine 1½-Zimmer-Wohnung. Mutter ging bei „Care“ auf Betreiben des FDGB arbeiten und war bald Betriebsrätin. Sie hatte sich, sobald die Bomben nicht mehr fielen, bei Partei und Gewerkschaft gemeldet.

So wurde ich also „links“ erzogen und war schon in der Kinderorganisation der FDJ, die späteren „Junge Pioniere“, der FDJ und später dann in der SED. Das alles im bürgerlich konservativen Steglitz in Westberlin. Nach der Grundschule ging ich auf die Paulsen-Schule. Oberschule Wissenschaftlicher Zweig hieß das damals. Dort war ich immer ein bisschen isoliert, hatte nicht den Stallgeruch der vorwiegend Beamtensöhne und -töchter. Kein Wunder - ich stand im tiefsten Kalten Krieg nicht bei der BRD-Hymne auf: War ja nicht meine!

Nach dem Mauerbau haben die Klassenkameraden eine ganze Woche lang nicht mit mir gesprochen - und mein Liebster auf der anderen Seite der Mauer: Also weiter weg als Australien! Ein Jahr später habe ich das Abi geschafft, übrigens ohne Diskriminierung durch die Lehrer. Da stand schon fest, die Partei wollte, dass ich als Redakteurin in unsere Zeitung „Die Wahrheit“ gehe. Das war okay so, aber ich wollte erst eine Ausbildung, ein Studium beendet haben, ehe ich hauptamtlich wurde. Ich wollte wenigstens die Spur einer Chance haben, woanders arbeiten zu können, falls ich mit dem Kurs der Partei nicht klar kommen konnte.

Also studierte ich an der FU Germanistik und Journalistik. War ja passend. Was ich nicht wusste, diese Kombination hatte nichts, aber auch nichts, mit dem Lernen von Artikelschreiben zu tun. Hilfe hatte ich gar keine. In der FDJW-Hochschulgruppe waren wir ja auch höchstens fünfzehn bis zwanzig Leutchen aus allen Hochschulen und Universitäten in Westberlin. Nach sechs Semestern musste eine Berufsperspektive her.

Ich ging an die PH Braunschweig, denn die Westberliner PH nahm keine Wechsler von der FU auf. In vier Semestern habe ich dann die 1. Lehrerprüfung bestanden. Das Referendariat musste ich in Niedersachsen bestreiten: Lehrermangel. Ich landete in Syke bei Bremen und heiratete meinen langjährigen Freund, den Steglitzer Genossen Peter Seidel, Vorstandsmitglied der SEW, denn in Syke konnte man damals nicht so einfach zusammenleben!

Nach dreieinhalb Jahren: Prüfung bestanden, verbeamtet, nächsten Tag gekündigt und zurück nach Westberlin. Die Partei schickte uns sofort für ein Jahr auf die Parteihochschule nach Moskau. Dort haben wir erst einmal gelernt, was Marxismus-Leninismus bedeutet. War bei uns ja nicht viel mehr als ein Bauchgefühl! Anschließend Peter hauptamtlich in den Vorstand, ich endlich in die Redaktion.

„Was, du warst Lehrerin? Dann bist du jetzt für die Bildung verantwortlich. Was, du hast studiert? Dann machst du jetzt die Hochschulseite!“ Und das blieb so im Wesentlichen in den nächsten zwanzig Jahren bis zum bitteren Ende.

Neulich habe ich mal in den alten Ordnern geblättert, denn meine Mutter, die alte Kommunistin, hat stolz alle meine namentlich gekennzeichneten Artikel gesammelt. Nö... ich muss mich nicht schämen! Kein Wunder, was haben wir denn gefordert? Kleinere Klassen, gemeinsames Lernen bis zur 10. Klasse, saubere Toiletten und natürlich antifaschistische Lerninhalte. Meine Fehler: ich hab mich vor ideologischen Auseinandersetzungen gedrückt, hatte ja Zuhause die alte Mutter und die kleine Tochter.

Schon 1973 war Peter auf einer Delegationsfahrt in der DDR tödlich verunglückt. Da brauchte es einige Jahre, um wieder klar denken zu können. Aber ich wollte doch noch ein Kind! 1977 klappte es dann mit Anja. Ein Vater war eigentlich nicht vorgesehen, ich habe dann aber doch 28 Jahre mit André zusammengelebt!

Nach der Wende wurde die gesamte Redaktion arbeitslos. Berufsfrage auf dem Arbeitsamt: “Als wat woll’n Se denn nun registriert werden, Lehrerin oder Journalistin?“ „Wo habe ich denn mehr Chancen?“ „Lehrerin!“ Und tatsächlich: Schon am Faschingsmontag 1990 stand ich wieder vor einer 3. Grundschulklasse. Lehrermangel! Die Regelanfrage (Berufsverbot) beim Verfassungsschutz gab es nicht mehr. Also nochmals 15 Jahre Lehrerin, immer 1. bis 3.Klasse.

Meine Partei hatte sich aufgelöst, in die neue wollte ich nicht. Wir alten Genossen wurden ja auch ein bisschen als Ballast empfunden. Dennoch, die Verbindung blieb eng.

2004 im Juni ging es ab in die Altersteilzeit. Nun wollten wir noch mehr reisen. Doch im Dezember verunglückte Andre vor Anjas und meinen Augen tödlich. Was nun? Anja zog zurück zu mir ins Haus nach Heiligensee, heiratete ein paar Jahre später und Lara wurde geboren. Ich fand meine politische Familie in der Reinickendorfer VVN-VdA. Die Verbindung zur LINKEN wurde noch enger. Die antifaschistische Gedenkarbeit steht heute an erster Stelle. Für die aktuelle Tagesarbeit in der LINKEN bin ich ein bisschen müde, nicht nur körperlich: Was Wunder bei der gefühlt 500. Demo für kleinere Klassen und gegen Lehrermangel. Im Augenblick bin ich auch mit homeschooling beschäftigt.

Aber wenn es dringend wird, steh ich schon noch bei der LINKEN auf der Matte!

Was, das ist zu lang? Das kommt davon, wenn man einer Redakteurin keine Längenvorgaben macht! Ist ja aber auch ein langes Leben!

Vera Seidel