Das kostbarste aller Güter
Ein zutiefst berührender Animationsfilm für alle Generationen, ab 6. März im Kino
Der Oscar-Preisträger Michel Hazanavicius präsentierte beim Festival in Cannes einen Animationsfilm. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Jugendbuch von Jean-Claude Grumberg, das u.a. für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2021 nominiert war. Philipp Teubner traf den Regisseur beim Filmfest Hamburg.
Als Michel Hazanavicius 2011 mit THE ARTIST in die Kinos kam, war man auf der ganzen Linie überrascht, denn er hatte einen durchaus aktuell wirkenden Film ganz im Gestus des klassischen Stummfilms inszeniert. Der Artist (Jean Dujardin) ist ein gefeierter Kinostar, der mit dem Wechsel zum Tonfilm Probleme hat und den zudem eine von ihm geförderte Jungschauspielerin in der Publikumsgunst überholt. Ein Film, der Vorbilder von Buster Keaton bis Billy Wilder fröhlich nutzt und der mit Preisen überhäuft wurde: u.a. Darstellerpreis in Cannes, 10 Oscarnominierungen, davon 5-mal gewonnen - Bester Film, Regie, Hauptdarsteller, Filmmusik und Kostümdesign.
Und jetzt also ein Animationsfilm.
Der Film erzählt, wie während des Zweiten Weltkriegs eine in Frankreich lebende Familie nach Auschwitz deportiert wird. Im überfüllten Güterzug zum Vernichtungslager wirft der Vater aus hilfloser Verzweiflung einen seiner Zwillinge aus dem Fenster. Dort wird das schreiende Mädchen von der Frau eines armen Holzfällers, während eines Schneesturms im Wald gefunden.
Was hat den erfolgreichen Spielfilm-Regisseur zu diesem unüblichen Abstecher bewegt?
Michel Hazanavicius:
„Es stimmt, aber ich habe auch andere Filme gemacht - Komödien, verschiedene Genres und viele Formate ausprobiert: Stummfilm, Schwarz-Weiß, Dokumentarfilm, ganz unterschiedliche Dinge. Ich würde nicht sagen, dass ich mich bewusst für die Animation entschieden habe. Aber als ich diese Geschichte fand, war sie so kraftvoll und so wunderschön, dass ich das Angebot nicht ablehnen konnte, sie zu verfilmen. Und die einzige Möglichkeit, sie zu erzählen (war für mich) als Animationsfilm. Also entschied ich mich dafür und sagte: Okay, dann aber Animation!
Dazu kommt, dass ich seit meinem zehnten Lebensjahr zeichne. Es war also eine Kombination aus verschiedenen Aspekten.“
Die Frau nimmt das Kind als ein Geschenk Gottes. Als sie das Mädchen nach Hause bringt, erkennt ihr Mann an den blau-weißen Resten eines jüdischen Gebetsmantels, in den das Baby gewickelt ist, dass es zu jenen Menschen gehört, die als „die Herzlosen“ gelten. Dennoch schließt auch der Mann irgendwann dieses Kind, das seine Frau als „Engel“ sieht, ins Herz. Dass das Baby jüdisch ist, spielt für die armen Waldbewohner abseits der Weltpolitik keine Rolle. Das Märchen kann also beginnen...
Die Filmemacher haben sich nicht für die typischen Comicbilder herkömmlicher Animationsfilme entschieden. Die Bilder erinnern stilistisch eher an ambitionierte Buchillustrationen. Wie haben Sie sich für den zweidimensionalen Grafikstil entschieden, den ich übrigens sehr gelungen finde? Besonders die Arbeit mit Licht in Ihrem Film ist sehr interessant, da sie viele Möglichkeiten für die Stimmung schafft.
Michel Hazanavicius:
„Ja, es handelt sich um klassische 2D-Animation, nicht besonders modern... Als ich das Buch las und diese Geschichte entdeckte, hatte ich das Gefühl, es sei wie ein klassisches Märchen - als ob die Geschichte bereits vor ihrer Niederschrift durch den Autor existierte. Ich wollte genau diese Art von Emotion einfangen, etwas Zeitloses, Klassisches - aber nicht Altmodisches. Etwas, das über die Zeit hinausgeht. Ich habe dabei nicht versucht, mich an Referenzen aus dem Bereich Film oder Animation zu orientieren. Mein Ausgangspunkt war die Malerei des 19. Jahrhunderts. Diese Art von Gemälden kann man jedoch nicht animieren, also ging ich weiter zum Graphikstil der 1920er, -30er Jahre. Am Ende sind es diese Bilder geworden, die tatsächlich wie Buchillustrationen wirken, genau wie Sie sagen. Der Stil, die Ästhetik, ergaben sich direkt aus der Geschichte selbst und der Stimmung, die sie vermittelt.
Ich bin übrigens kein Spezialist für Animation, und es war nie mein Ziel, das Animationsgenre zu verändern. Ich habe diesen Film auch nie als Animationsfilm betrachtet. Ich wollte einfach einen Film machen und diese wunderschöne Geschichte auf die bestmögliche Weise erzählen.“
Das ist irgendwie auch ein Märchen. Eine Geschichte auch über die besondere Wahrheit der Märchen: immer auf Seiten der Armen, der Unterdrückten, der Opfer…
Wie sehen sie es?
Michel Hazanavicius:
„Ein Märchen, ja. Es ist aber eher - wir haben ein Wort im Französischen, das ich seit Jahren nicht übersetzen kann: détournement. Es bedeutet so viel wie „Umleitung“, in gewisser Weise also eine Art „Entführung“. Die Geschichte beginnt wie ein klassisches Märchen, aber dann entwickelt sie sich plötzlich in eine ganz andere Richtung, die man von einem klassischen Märchen nicht erwarten würde.
Es ist auch nicht aus der Perspektive der Opfer erzählt. Ja, die Handlung spielt während des Zweiten Weltkriegs, in der Nähe von Konzentrations- und Vernichtungslagern. Aber das Thema ist nicht der Holocaust. Es geht weder um die Opfer noch um die Täter. Das Thema sind vielmehr die Menschen, die Leben gerettet haben - ohne Eigeninteresse. Menschen, die, während die gesamte Welt Kopf steht, ihren moralischen und ethischen Kompass beibehalten. Die genau wissen, was zu tun ist, wie man sich verhält, was richtig und was falsch ist. Sie sind das eigentliche Thema, die wahren Helden des Films. Und genau das macht die Geschichte so kraftvoll und so schön. Denn am Ende ist die Botschaft - oder vielleicht einfach die Stimmung des Films: selbst in den schlimmsten Situationen kann man etwas Schönes finden, Menschen. Man hat immer die Wahl, sich richtig zu verhalten.“
Vielleicht eine etwas heikle Frage, aber ich finde sie trotzdem wichtig:
In Ihrem Film wird das Wort „Jude“ nicht erwähnt…
Michel Hazanavicius:
„Warum habe ich das Wort „Jude“ nicht benutzt?
Im Märchen heißt es immer „Es war einmal in einem fernen Land…“ Es ist nie „Vor zwei Jahren in der Schweiz“. Märchen präzisieren solche Dinge nicht. Selbst die Figuren haben oft keine echten Namen, und genau das verleiht der Geschichte eine universelle Dimension. Das war auch mein Ansatz. Wie ich schon sagte, der Film handelt nicht von Juden oder Nazis. Es geht darum, dass man selbst in den schlimmsten Situationen einen Weg finden kann, sich richtig zu verhalten. Deshalb wollte ich solche Begriffe vermeiden. Jeder versteht, worum es geht, aber meine Aufgabe ist es, die Geschichte zu erzählen. Wer mehr darüber erfahren möchte, findet unzählige Bücher und Filme dazu. Ich wollte diese Geschichte auf die Ebene der Menschheit heben, nicht auf Europa, Deutschland oder die Juden beschränken. Sie ist viel universeller.
Es geht nicht darum, Jude oder Nazi zu sein, sondern darum, Opfer oder Täter zu sein, darum, wie man in einer solchen Situation überlebt und wie einige Menschen zwischen diesen beiden Extremen den richtigen Weg finden.“
Ich habe das Gefühl, dass in Ihrem Film besonders wichtig ist, wie der gedankenlose Pöbel dargestellt wird, der bereit ist, vorherrschende Vorurteile zu übernehmen. Gerade jetzt in der Welt passieren wieder sehr ähnliche Dinge.
Michel Hazanavicius:
„Oh ja, das stimmt. Es ist sehr schwierig, wenn die gesamte Gesellschaft Kopf steht, wenn sogar die Regierung sagt, dass etwas so ist, wie es ist. Das läuft immer nach demselben Muster ab.
Ich habe vor mehr als 20 Jahren einen Dokumentarfilm über Ruanda produziert und mitgeschrieben. Es beginnt immer mit Worten: „Man beginnt, eine Gemeinschaft schlecht zu reden, und dann wird es offiziell.“ Die Regierung fängt an, entsprechend zu handeln und die Menschen folgen einfach. Ich bin mir ziemlich sicher, dass viele Nazis überzeugt waren, auf der „richtigen Seite“ zu stehen. Die Geschichte hat entschieden, dass das nicht der Fall war, aber in den 1930er-Jahren waren viele Menschen fest davon überzeugt, dass sie im „richtigen Lager“ waren. Niemand möchte auf der falschen Seite stehen. Wenn jedoch alles auf den Kopf gestellt ist - wenn die Mächtigen etwas sagen, wenn dein Freund etwas sagt, wenn deine Familie etwas sagt - ist es unglaublich schwierig, den richtigen Weg zu finden. Aber ich glaube, dass wir, mit all unserer Bildung heute, wenn wir auf unser Herz hören und uns selbst vertrauen, immer noch eine Wahl haben. Wir müssen dem, was in uns ist, mehr vertrauen und Respekt entgegenbringen als dem, was da von außen kommt.“
In Ihrer gesamten Arbeit bemerke ich Ihr Interesse an den Besonderheiten der Filmkunst. Zum Beispiel in „The Artist“, „Godard - Mon amour“ oder „Final Cut of the Dead“ - daher interessiert mich sehr: Was bedeutet Film für Sie?
Michel Hazanavicius:
„Oh, ich weiß nicht, es ist eine Art, Geschichten zu erzählen, aber nicht Geschichten im Sinne von „Ich bin ein Geschichtenerzähler“, wie es bei manchen Regisseuren der Fall ist. Ich glaube, mich interessiert mehr die Sprache des Kinos. Das ist bei diesem Film ein bisschen anders, weil er auf einem Buch basiert und ich ihn gemacht habe, weil ich die Geschichte wirklich liebe. Bei diesem Film fühle ich mich also eher wie ein Geschichtenerzähler. Aber normalerweise, ja, da geht es mir um das Zusammenspiel zwischen dem, was erzählt wird, und der Form, in der es erzählt wird. Ich bin wirklich fasziniert von den Formen des Kinos und davon, wie man damit spielen kann. Mein Hauptinteresse liegt wahrscheinlich darin, die richtige Verbindung zwischen der Geschichte selbst und der Art und Weise, wie man sie erzählt, zu finden. Jeder Film ist für mich ein Prototyp. Man macht nie zweimal denselben Film. Es ist jedes Mal ein neues Abenteuer, und meine Aufgabe ist es, für jeden Film herauszufinden: Was sind die Spielregeln? Wenn ich sie gefunden habe - oder glaube, sie gefunden zu haben - muss ich dem ganzen Team erklären: „Bei diesem Film sind dies die Regeln des Spiels. Wenn wir sie einhalten, wird alles gut.“
Filmemachen ist für mich wie das Spielen mit dem besten Spielzeug der Welt. Und nachdem ich damit gespielt und einen Film gemacht habe, „zerstöre“ ich das Spielzeug und suche mir ein neues.“
Es gibt derzeit viele Filme, die sich mit Auschwitz beschäftigen. In Deutschland hatten wir zum Beispiel TREASURE, dann THE ZONE OF INTEREST, DIE ERMITTLUNG...
Warum, glauben Sie, ist dieses Thema jetzt so präsent?
Michel Hazanavicius:
„Weil nicht die Geschichte von Auschwitz selbst, sondern die Geschichte der Darstellung von Auschwitz an einem sehr interessanten Punkt ist. Es gibt bald keine Überlebenden mehr, und ich denke, wir verlassen eine Ära, die man vielleicht als Lanzmann-Ära oder Dokumentarfilm-Ära bezeichnen könnte.
Jetzt stehen wir vor dem 80. Jahrestag der Befreiung der Lager, und diese Geschichte wird Teil der Historie - sie ist nicht mehr zeitgenössische Geschichte. Ein Kind, das heute 10 Jahre alt ist, wurde 70 Jahre nach der Befreiung der Lager geboren. Das bedeutet, dass sich die Darstellung verändert. Diese Kinder können wir nicht dazu auffordern, sich auf dieselbe Weise dafür zu interessieren, wie wir es taten, als wir Kinder waren. Vielleicht sollten wir uns eher fragen, ob wir die Art ändern müssen, wie wir diese Geschichte erzählen, wenn wir wollen, dass sie weiterhin Interesse daran haben.
Ich muss allerdings sagen, dass ich nicht sehr optimistisch bin. Ich glaube nicht, dass wir aus der Geschichte lernen, aber das bedeutet nicht, dass wir nicht versuchen sollten, es dennoch zu tun.“
„Das kostbarste aller Güter“ ist ein zutiefst berührender Film für alle Generationen. Ab dem 6. März in den Kinos.
Philipp Teubner