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Von Hans Canjé 

Karl, Arthur, Mathilde ...

EINE FAMILIENCHRONIK

Nein, so hatte er sich das Ende dieses verfluchten Krieges und die Befreiung nicht vorgestellt. Statt der »bärenstarken Sibirjaken, Urbilder von Kommunisten« und T 34 rollen da am 7. Mai 1945 in Berlin-Frohnau Pferdegespanne ein. Auf den offenen Wagen liegen Soldaten. Sie tragen Käppis mit dem Roten Stern. »Verdreckte Soldaten in abgerissenen Uniformen.« Die Ladung der meisten Wagen gleicht dem Sortiment einer Gemischtwarenhandlung. Eigentlich will er einen der Befreier umarmen. Aber der klaut ihm die Uhr und zieht weiter. »Bis zum Reichstag ist es noch ein langer Weg. Was ist da schon eine Uhr.« Diese Episode entdeckt man am Ende der Chronik des Berliner Journalisten Peter Neuhof. Seine Mutter, Gertrud Neuhof (»Arierin«), war gerade auf dem Todesmarsch aus dem KZ Ravensbrück von eben dieser Roten Armee befreit worden. Für seinen Vater, den Juden und Kommunisten Karl Neuhof, kamen die Befreier zu spät: Er ist am 15. November 1944 in Sachsenhausen erschossen worden. Gertrud Neuhof und Karl Neuhof waren am 10. Februar 1943 wegen ihrer Verbindungen zur kommunistischen Widerstandgruppe um die Spitzenfunktionäre Wilhelm Beuttel und Wilhelm Knöchel verhaftet worden. Da war der Autor erst siebzehn Jahre alt. Seinen Eltern wird »Begünstigung« von Widerständlern, vor allem bei der Hilfe für den von der Gestapo gejagten Freund der Familie Wilhelm Beuttel vorgeworfen. Peter Neuhof hat in diese Familienchronik seine umfangreichen Recherchen in verschiedenen Archiven über die reichsweiten Ermittlungen der Gestapo gegen Beuttel und Knöchel aufgenommen. (Beide starben unter dem Fallbeil.) Der Autor begnügt sich nicht mit der Rückblende, er beleuchtet auch die Nachkriegszeit, als die »Braunen« immer noch oder schon wieder da waren, rehabilitiert oder von gleichbelasteten Richtern freigesprochen. Als Berliner Korrespondent des Rundfunks der DDR hat er erlebt, wie großherzig selbst die ärgsten Schergen vor Gericht behandelt wurden, darunter jene, die kräftig mittaten bei der Deportation jüdischer Bürger in die Vernichtungslager. Bei der Schilderung des Prozesses gegen die Verantwortlichen für die Deportation von 30 000 Juden in die mörderischen Lager im Osten, gegen den Chef der Gestapo-Leitstelle Berlin, SS-Standartenführer Otto Bovensiepen, und dessen Stellvertreter, SS-Sturmbannführer Dr. Vetter, 1969 vor dem Schwurgericht Moabit merkt der Autor Persönliches an: »Zu ihren Opfern zählen auch Arthur Neuhof, ein Cousin meines Vaters und dessen Ehefrau Mathilde ... Arthur kam im Ghetto von Lodz um, seine Frau endete in Auschwitz ... Auf ihr Schuldkonto kommt auch der Tod von Selma Neuhof, einer Cousine meines Vaters. Sie wurde mit dem 11. Transport am 28. März 1942 in den Tod geschickt. Jenny Neuhof, eine weitere Cousine meines Vaters, endete ebenso im Gas wie Liesbeth Neuhof, die mit dem 34. Transport nach Auschwitz verschleppt wurde. Siegmund Neuhof, auch ein Cousin meines Vaters, starb an 13. Dezember im Ghetto von Lodz.« Welche Infamie: Der Prozess endete mit Freisprüchen. Eine erschütternde, emotional ergreifende Chronik. 

Peter Neuhof: Als die Braunen kamen. Eine Berliner jüdische Familie im Widerstand. Pahl Rugenstein, Bonn. 300 S., br., 24,90 EUR.


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