Es war eine Befreiung
Wir in Reinickendorf • 3/2005
Zeitzeuge Peter Neuhof über den 8. Mai und heutige Nazis
Der 8. Mai, was ist er für dich: Tag der Befreiung, Tag der Niederlage oder was?
Eindeutig Tag der Befreiung. Diejenigen waren besiegt, die mich bedrohten, die ich fürchten musste und die ich aus ganzem Herzen hasste. Ich musste sie fürchten, weil ich der Sohn eines Juden war, den sie November 1943 im KZ Sachsenhausen ermordet hatten, und weil ich ein anderes Deutschland wollte als sie.
Was meine Mutter betrifft: Sie war im Herbst 1944 in das Konzentrationslager Ravensbrück gebracht und dann mit auf den Todesmarsch der KZ-Häftlinge nach Norden getrieben worden. Sie kam frei, als sowjetische Spitzen dem Marschzug zwischen Crivitz und Schwerin den Weg abschnitten und die Bewacher flüchteten. Wörtlicher kann man Befreiung nicht verstehen.
Es gibt zur Zeit viele Berichte und Dokumentationen darüber, was Deutsche und Deutschland im zweiten Weltkrieg erlitten haben. Deutsche in der Opferrolle.
Das ist ja auch so gewesen. Aber man muss das Kind beim Namen nennen: Wessen Opfer waren die Deutschen geworden? Es sollte niemand auf den Gedanken kommen, das Leid und auch die Verbrechen auf beiden Seiten gegeneinander aufzurechnen. Das geht einfach nicht.
Deutschland hat den Krieg angefangen und nicht Kraft gefunden, ihn selber zu beenden. Die Nazis haben gesät und das deutsche Volk hat Sturm geerntet. Krieg ist eine unmenschliche Angelegenheit. Er peitscht Hass und Rachegefühle hoch, die Angst um das eigene Leben verdrängt die Achtung vor dem Leben der Anderen.
Begonnen hat dieser Krieg mit dem Krieg im Innern, nämlich mit der Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung von Menschen, die anderer Herkunft, anderer Lebensart oder anderen Denkens waren.
Ausgrenzung ist für dich ein Kernbegriff faschistischen und neonazistischen Denkens?
Ja, und die daraus hergeleitete Rechtfertigung, mit Gewalt gegen die Ausgegrenzten vorzugehen.
Wie erklärst du es dir, dass wir uns zum 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus erneut und verstärkt mit dieser Erscheinung auseinandersetzen müssen?
Wir haben sehr viele Arbeitslose. Und die Austrocknung des Binnenmarktes durch den Druck auf Löhne, Gehälter und Sozialleistungen bringt verstärkt die kleinen und mittleren Unternehmen in Sorge, die Leistungen für die einheimische Bevölkerung erbringen - die großen Unternehmen erzielen ja ihren Umsatz zu zwei Dritteln im Ausland.
Solche existenziellen Sorgen unterhöhlen den Glauben an die tonangebenden Parteien und die Demokratie. Und manche hoffen auf Besserung dadurch, dass Andere aus dem Boot geworfen werden.
Allerdings besteht ein großer Unterschied zu 1933...
Ja, damals hatten Industrie und Banken auf Hitler als ihren Sachwalter gesetzt. Heute betrachten sie die Neonazis eher als geschäftsschädigend - ein Daimler mag noch so gut sein, als Nazi-Kutsche wäre er im Ausland schlecht zu verkaufen. Aber das ist kein Trost für die, die heute und hier von Neonazis beschimpft, bedroht und terrorisiert werden.
Brauchen wir strengere Verbote?
Ich wäre ja nicht dagegen, aber sie würden ebenso unterlaufen wie die vorhandenen eindeutigen Gesetze, so lange Verstöße auf relativ breite Billigung oder Stillschweigen hoffen können.
Auf Dauer hilft gegen alte und neue Nazis nur eine sozial gerechte Politik, die auf den gegenseitigen und den gemeinsamen Nutzen aller Beteiligten abzielt, national und international. Und nötig sind bessere Geschichtskenntnisse der Heranwachsenden.
Interview Hans Schuster
Reinickendorfer zeitlebens
Peter Neuhof, Jahrgang 1925, verbrachte seine Kindheit in Frohnau. Sein Vater war Angestellter einer Firma, die an der Getreidebörse handelte. Im ersten Weltkrieg hatte der Vater an der Ostfront vom Kaiser persönlich das EK II überreicht bekommen, aber er war als entschiedener Kriegsgegner heimkehrt. Ein erschreckendes Erlebnis war es für den kleinen Peter, dass 1932 ein guter Bekannter der Familie, Gerhard Weiß, im Wahlkampf von einem SA-Mann erschossen wurde und dass ein Jahr später ein ebenfalls guter Bekannter und Nachbar, Walter Hellige, zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, weil er einen Kranz an der Mordstelle angebracht hatte.
Vater Karl Neuhof war nach Machtergreifung der Nazis als Jude in seiner Bewegungsfreiheit wesentlich eingeschränkt und auch von seiner Arbeitsstelle entfernt worden. Bloß einen Judenstern musste er nicht tragen, weil mit einer „Arierin“ verheiratet war, die zu ihm hielt.
Trotz höchster eigener Gefährdung nahmen die Neuhofs einen alten Bekannten auf, Wilhelm Beuttel, der im Auftrag der KPD zur illegalen Arbeit aus Holland nach Deutschland zurück gekehrt war - ohne ausreichende Papiere. Als die Gestapo ihn 1943 aufspürte, wurden auch die Neuhofs verhaftet.
Dem Juden Karl Neuhof machte man keinen Prozess. Er kam ins KZ Sachsenhausen und wurde dort erschossen. Gertrud Neuhof wurde wegen “Begünstigung“ zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und ein halbes Jahr nach der Entlassung ins KZ Ravensbrück verschleppt. Peter Neuhof, bereits 1942 von der Schule gefeuert, fand Arbeit in der Wittenauer Maschinenfabrik Herbert Lindner. Nach 1945 wurde er Journalist. Er wohnt noch immer in Reinickendorf.