Plädoyer für eine moderne sozialistische Bürgerrechtspartei

Petra Pau zur Programm-Debatte
auf der Mitgliederversammlung der LINKEN Reinickendorf

1. Friedrich Engels schrieb am 5. 3. 1892 an Karl Kautsky: „Der Liberalismus ist die Wurzel des Sozialismus, will man also radikal verfahren, so muss man den Liberalismus kaputtmachen, dann verdorrt der Sozialismus von selbst.“
(Engels an Kautsky, Brief vom 5. März 1892, MEW 38, S. 288)

Im Zentrum des politischen Liberalismus steht demnach die individuelle Freiheit des Menschen. Die Mahnung von Friedrich Engels bedeutet nichts anderes: Ein Sozialismus, der die individuellen Freiheitsrechte missachtet, ist kein Sozialismus. (Vgl.: Scheitern des Real-Sozialismus sowjetischer Prägung)

Mehr noch: Für Friedrich Engels war der Liberalismus die (siehe Zitat) „Wurzel des Sozialismus“. Was wiederum aktuell bedeutet: Wer einen Demokratischen Sozialismus anstrebt, muss die individuellen Freiheitsrechte jedes Bürgers und jeder Bürgerin hochhalten und verteidigen.

Deshalb sage ich mit meinen Worten:
DIE LINKE muss immer eine Partei der sozialen Gerechtigkeit sein.
DIE LINKE muss immer eine Partei des Friedens sein.
DIE LINKE muss aber immer auch eine moderne sozialistische Bürgerrechtspartei sein.
Das wäre geradezu ein Qualitäts-Siegel der neuen Linken.


2. Nun beruft sich der Programm-Entwurf auf sechs Persönlichkeiten der Geschichte. Ob das nötig ist, ob das so richtig ist und ob es die Richtigen sind, das will ich hier gar nicht diskutieren. Aber wenn schon, dann will ich nach Friedrich Engels auch Rosa Luxemburg zu Wort kommen lassen.

Schon Rosa Luxemburg erstrebte einen „demokratischen Sozialismus“. Davon zeugen unter anderen ihre Widerworte gegen Lenin. Bekannt ist ihr Zitat: „Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.“
(s. Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke Band 4, S. 359, Dietz Verlag Berlin)

Ihre Botschaft: Die angestrebte neue Zeit dürfe nicht hinter die bürgerlichen Errungenschaften der Französischen Revolution zurückfallen. Im Gegenteil: Im Sozialismus müssten Freihefts- und Bürgerrechte radikal ausgeweitet werden.

Rosa Luxemburg strebte eine „ungehemmte Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie“ an. Heute erleben wir das Gegenteil: Die Demokratie wird immer beschränkter und die „Volksmassen“ fühlen sich immer ausgegrenzter, ohnmächtiger.

Dieser Befund ist belegt und er gilt für Kernstaaten des entwickelten Kapitalismus, wie der Bundesrepublik Deutschland. Dafür gibt es subjektive und objektive Gründe. Sie sind zerstörend.

Deshalb hat die Fraktion DIE LINKE eine interdisziplinäre Querschnitts-Arbeitsgruppe gebildet, die sich mit der Wiederbelebung der Demokratie befassen wird. Halina Wawzyniak und ich haben die Leitung dieser sehr ambitionierten Mini-Nachdenk-Universität übernommen.


3. Gleichwohl bleibt eine Frage, die unter Linken immer wieder aufbricht: Wie verhalten sich soziale Rechte einerseits und individuelle Freiheitsrechte anderseits zueinander? Diese Frage gehörte auch zu den ausgewiesenen Unklarheiten in den programmatischen Eckpunkten der Linken von 2007.

Im neuen Programm-Entwurf scheint sie geklärt, Zitat: „Wir wollen eine Gesellschaft des demokratischen Sozialismus aufbauen, in der die Freiheit und Gleichheit jeder und jedes Einzelnen zur Bedingung der solidarischen Entwicklung Aller wird.“ (Präambel)

Im Kapitel III heißt es zudem: „Für Rosa Luxemburg endet Gleichheit ohne Freiheit in Unterdrückung, und Freiheit ohne Gleichheit führt zu Ausbeutung.“

Nun lese ich aber auch programmatische Mahnungen, zum Beispiel aus dem „Marxistischen Forum“, wie diese: „DIE LINKE (braucht) ein reformpolitisches Profil, das die Interessen der abhängig Beschäftigten in den Mittelpunkt (...) stellt.“ Und weiter: „Alle Versuche, DIE LINKE zu einer Bürgerrechtspartei' umzuwandeln, würde der Erfolgsstrategie für linke Politik ein jähes Ende bereiten.“

Bezeichnend für diesen Beitrag ist, dass der Autor (Uwe Hiksch) das Wort „Bürgerrechtspartei“ auch noch in Anführungszeichen setzte. Ich will keine linke Bürgerrechtspartei in Anführungszeichen. Ich will eine moderne sozialistische Bürgerrechtspartei mit Ausrufezeichen.


4. Etliche Protagonisten der neuen Linkspartei waren der Meinung, im Zweifelsfall müsse das Soziale vor der Freiheit rangieren. „Was nützt einem verarmten und aids-kranken Afrikaner die Presse-Freiheit?“ Das war nur eine Floskel, die als Argument für diese Position eingeführt wurde. Der Positiv-Kern: Ohne soziale Gerechtigkeit gibt es auch keine Freiheit als Menschenrecht.

Der Negativ-Kern derselben Argumentation: Bürger- und individuelle Freiheitsrechte werden verhandelbar, wenn dies vermeintlich der sozialen Gerechtigkeit dient. Das Gegenstück dazu findet sich übrigens im Freiheus-Verständnis bürgerlich-liberaler Parteien. Sie stellen die Freiheit über alles und sie nehmen zugleich in Kauf, dass die Welt dabei sozial aus den Fugen gerät.

In einem verbreiteten Arbeiterlied heißt es: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!“ Was aber ist des Menschen Recht? Eine Definition findet sich in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom Dezember 1948. Sie beschreibt 30 Rechte, die allen Menschen zustehen. Und das aus einem einfachen Grund: Weil sie Menschen sind.

Nach dieser Denkschule entspringt der universelle Anspruch auf Menschen-, Freiheus- und Bürgerrechten nicht dem Wohlwollen irgendeiner Staats- und Gesellschaftsordnung, sondern dem Menschsein selbst. Jedwede Staats- und Gesellschaftsordnung hat demnach diesem Menschsein als Freie unter Gleichen zu dienen. Oder sie ist eben keine freiheitlich demokratische Gesellschaft.


5. In diesem Ansatz treffen sich scheinbar verschiedene Strömungen. Man findet ihn religiös begründet. Der Bürgerlich-Liberale verbindet sich so mit der Epoche der Aufklärung. Die Linke wiederum beruft sich auf Karl Marx, wonach die Freiheit jedes Einzelnen die Voraussetzung für die Freiheit aller sei. Wir sehen, es gibt offenbar ein breites Bündnis von Jesus über Voltaire bis Luxemburg.

Das ist übrigens ein weiterer Punkt, an dem sich der Sozialismus sowjetischer Prägung blamiert hat. Die Freiheit des Einzelnen wurde der „großen Sache“ untergeordnet. Das Marx-Zitat wurde ins Gegenteil verkehrt. Sein Freihefts-Anspruch wurde ins kommunistische Utopia verschoben. Bis dahin galten andere Regeln. Dieser Kopfstand wurde auch noch als Dialektik verkauft.


6. Gleichwohl gibt es eine klare Trennlinie, die bürgerlich Liberale und libertäre Linke in der Freiheitsfrage trennt. Die ersten definieren Freiheit als individuelles Menschenrecht, das der Staat nicht beeinträchtigen darf. Die anderen definieren Freiheit als individuelles Menschenrecht, das der Staat zu gewährleisten hat. Dazwischen liegen Welten - vor allem ein gegensätzliches Staatsverständnis.

Die bürgerlich Liberalen wollen im Namen der Freiheit weniger Staat und mehr Individualität. Die libertären Linken wollen namens der Freiheit einen gerechten Staat und mehr Gesellschaft. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Beide treffen sich bei der Verteidigung des Rechts-Staates. Beide trennen sich, wenn es um Werte wie sozial, solidarisch und vor allem Gerechtigkeit geht.

Und so sind in der bundesdeutschen Politik derzeit die eigentlich inhaltlichen Gegenpole die FDP und DIE LINKE und nicht etwa die CDU/CSU einerseits und die SPD andererseits.


7. Der Liberalismus als ideologische Grundströmung knüpft übrigens die politische Freiheit an die Freiheit des Eigentums. Zitat: „Die wirtschaftliche Freiheit hat keine Sicherheit ohne politische Freiheit, und die politische Freiheit findet ihre Sicherheit nur in der wirtschaftlichen Freiheit.“

Wenn man das ernst nimmt, dann befindet sich die FDP auf einem fundamentalen Holzweg. Denn demnach kann doch nur frei sein, wer wirtschaftlich frei ist. Und das sind im Kapitalismus immer weniger.

Dennoch verteidigt die FDP eine Marktwirtschaft, die sozial und ökologisch blind ist, die zunehmend mehr menschliche Werte vernichtet, als sie historisch befördert hat. Schlimmer noch: Sie gefährdet die Zukunft der Zivilisation.

Deshalb wird umgekehrt ein Schuh draus. Je weniger Bürgerinnen und Bürger durch fremdes Eigentum beherrscht und damit entfremdet werden, umso mehr Bürgerinnen und Bürger werden politisch befreit, also frei sein.


8. Folglich ist es richtig, dass DIE LINKE im Pogramm-Entwurf die Eigentumsfrage aufruft: wegen der sozialen Gerechtigkeit und namens der Freiheit. Und es ist doch geradezu sinnlich wahrnehmbar, dass „Hartz-IV-Betroffene“ nicht nur arm dran sind, sondern zugleich entrechtet werden.

Das allerdings führt zu einer weiteren programmatischen Frage: Welche Eigentumsform könnten den Freihefts-Ansprüchen demokratischer Sozialistinnen und Sozialisten am ehesten entsprechen? Das kapitalistische Monopol-Eigentum bestimmt nicht. Das schon einmal gescheiterte Staats-Eigentum aber sicher auch nicht.

Ich ende daher mit einem bedenkenswerten Zitat von Wolfgang F. Haug. Der international ausgewiesene Marx-Kenner meinte in seinem Buch „Politisch richtig oder richtig politisch“:

„Links ist alles Handeln, das Welt aus dem Reich des Privateigentums zurückgewinnt, ohne sie dem Reich des Staatsapparats auszuliefern.“

Damit habe ich ein neues Kapitel aufgeschlagen, nämlich das zum Staatsverständnis der Linken. Diese Büchse mache ich aber gleich wieder zu. Denn das ist ein weiteres abendfüllendes Programm.

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