Mein Nikolaus

Wir in Reinickendorf • 11/2003

Eine Weihnachtserzählung von Reiner Rauch

Momentan meide ich Markthallen. Die abgespulten Weisen zur Heiligen Nacht erinnern mich an eine unglaubliche Begegnung mit dem Nikolaus, der ja eigentlich immer heimlich kommt.

Im letzten Jahr hab ich ihn erwischt, weil mich ein Schuß im Fernsehen weckte. Ich rieb die Augen und sah: durch die leise geöffnete Wohnungstür schlüpfte ein bartloser Gnom in einem weiten Zauberermantel. Seine Augen leuchteten wie Lampen in die Ecke mit den Kinderschuhen. Er füllte sie mit aus der Luft gegriffenen Pfefferkuchen, warf einen mürrischen Blick auf die schmalen Wunschzettel und ließ sie irgendwo verschwinden. Das war kein Einbrecher. Aber ein Nikolaus, verkleidet als Harry Potter? Ich räusperte mich. Er fuhr zusammen: „Scheiße! Warum stehen die Schuhe nicht draußen vor der Tür, wie es der Brauch verlangt? Und wo ist dein Wunschzettel?“

Mir war nichts eingefallen, was wünschenswert und erschwinglich zugleich gewesen wäre. Da verwandelte sich sein Gesicht in eine glühende Kohle. „Mensch! Unsere Werkstätten erwarten, dass ich Aufträge bringe. Und so einer begnügt sich, weil die Kühlschränke voll sind, die Klamotten noch nicht abgetragen. Was schluckt der Recorder? Veraltete Kassetten... Und wo ist das Handy mit Bild?“ „ Das ist,“ sagte ich, „doch mehr was für kleine Mädchen.“ Er ließ sich nieder, auf einer Fußbank. „Leider. Alles Kleckerkram. Und alles jagt Schnäppchen. Selbst die mit den gefüllten Konten. Was sie demnächst an Steuern sparen, legen sie noch an. Oder stecken es in die private Vorsorge, statt sich ein Beispiel zu nehmen an den Freunden hinterm Teich. Da wird geschenkt!“ „Auf Pump!“ „Na und? Die deutschen Wirtschaftswunderwagen liefen doch massenhaft nicht auf Rädern, sondern auf Wechseln, zum neuen Häusli und in die Supermärkte vor der Stadt. Und? Der Käfer hat eure Welt verändert, mehr als alle Krieger und Revolutionäre. So was wird wieder gebraucht, eine Idee, die die Massen ergreift.“ Das erinnerte mich an Schrappschrapp, Spitzname eines Bühnenhandwerkers, der damals heimlich und in alten Schuppen an seinem Muster baute. Mit ausrangierten Auto- und Flugzeugteilen. Besessen von einem Traum: dem Volkshubschrauber. Mein Zwerg wurde blass. „Das ist die Idee. Wie heißt der Mensch wirklich?“ „Der lebt nicht mehr.“ „Schade. Wird nicht leicht sein, einen zu finden, der in seine Fußstapfen tritt. Aber angepaßt an die neuen Verhältnisse. Das „Volk“ ist out. Jetzt bräuchte man gleich differenzierte Modelle für alle Steuerklassen. Aber, heiliger Guido, das bringt den Ruck! Heftige Wünsche. Wachstum im Inland, Mittel für die Bildung, weniger Fehler auf den Zetteln, mehr Arbeit für uns. Selbst für den Bau. Die Straßen werden veröden, und Luftlöcher muss man nicht stopfen. Aber unser Fluggerät für jedermann braucht Start- und Landeplätze. Zunächst natürlich einen Mann, der die Geldgeber ansteckt mit seinem Feuer. Du bist es nicht!“ Er schlüpfte hinaus.

Ich hatte ihn vergessen. Jetzt im Advent rückt er mir wieder auf die Pelle und erinnert mich: ich hab noch immer einen Marschallstab im Tornister. Leider nicht das Zeug zu einem der größten Deutschen. Das tut weh.

Und was sage ich ihm, wenn er wieder die Bescheidenheit meiner Wünsche bemängelt?