Die Reise der Helden

Wir in Reinickendorf • 11/2005

Von der wirklichkeitsleeren Welt der Politiker

Ein Buch von Jürgen Leinemann

Mal angenommen, Sie wollen ins Kino und lesen folgende Filmbeschreibung: Der Film ist in drei Akte aufgeteilt, jeder Akt hat eine Länge von 32 Minuten. Im ersten Akt verlässt der Held seine gewohnte Welt. Im zweiten Akt werden dem Held Prüfungen auferlegt und im dritten geht es um die Konsequenzen. In der 80. Minute begegnen sich dann alle Darsteller zum Zieldrama und in der 91. Minute füllt der Held endlich seinen Mangel auf. Diese Beschreibung entspricht in etwa dem Strickmuster eines Hollywoodschinkens. Einen Film aus dieser Perspektive anzuschauen reduziert ihn auf das, was Kino eigentlich ist: eine Illusion auf Zelluloid.

Das Buch ’"Höhenrausch’" von Jürgen Leinemann beschreibt die wirklichkeitsleere Welt der Politiker und hat einen ähnlichen Effekt: Erkennt man das Strickmuster der Macht, wird offensichtlich, wie theatralisch das ganze Geschehen ist.

Der Autor ist seit 1971 als Journalist auf der Politikerbühne zu Hause. Er besitzt einen scharfen Blick für dramaturgisches Politikergehabe und durchschaut deren Suchtstrukturen. Er beschreibt, wie die einst ehrbaren Motive der Politiker in Geltungssucht umschlagen und für sie zur Falle werden.

Jürgen Leinemann hat fast dreißig Jahre die tragischen Figuren unserer Bühne beobachtet und kennt die Gesten der Macht wie seine eigene Westentasche: er hat auf die geschaut, die von einem Tag auf den anderen ihre Heldenrolle mit dem Antagonisten tauschen und wieder ihr eigenes Leben erlernen mussten. Alltagssorgen und Identitätsfindung stehen auf dem Tagesplan unserer abgewählten Helden. Aber er hat auch Szenen von Helden parat, die sich nicht das Rückgrat beschädigen ließen. Willy Brandt, zum Beispiel. Der mit Fritz Erler bei seinem ersten Amerika-Besuch während der kommunistenfresserischen McCarthy- Zeit um vier Uhr morgens angeheitert am Weißen Haus vorbeifuhr und - im offenen Wagen stehend - die Internationale sang.

Aus der Perspektive des Buches ‚"Höhenrausch’" erhält Angela Merkels Satz: „"Ich will Deutschland dienen"“ eine ganz neue, fast tragikomische Bedeutung. Was hat die CDU-Heldin denn da für ein Versprechen abgegeben? Sie will sich für Deutschland durch den steinigen Weg dienen, Opfer bringen und den Fallstricken der Geltungssucht widerstehen!

Die lateinische Übersetzung für „"opfern"“ heißt „"heilig werden"“. Das ist wohl das höchste Ziel, das sich ein Politiker setzen kann, und ob dieses Ziel mit Realitätsverlust zu tun hat, darüber können Sie am 23.11.2005 um 19:00 Uhr mit dem Autor des Buches reden. Der Rote Laden lädt Sie zu Tegeler Dialogen zur Demokratie ein. Sie dürfen gespannt sein, denn Jürgen Leinemann weiß, wovon er spricht!

Manuela Klein