60. Jahrestag der Befreiung
Wir in Reinickendorf • 5/2005

Es schickt der Herr den Jockel aus

Erinnerungen an Harald Poelchau

von Werner Wüste

Wenn ich ihm doch schreiben könnte! Und wenn ich lediglich die eine meiner vielen Fragen beantwortet bekäme: Welche Bedeutung für ihn wohl jenes Kinderbuch hatte, das ich, war ich bei ihm zu Besuch, jedesmal hervorkramen durfte.

„Es schickt der Herr den Jockel aus“. Der allerdings schüttelt die Birnen nicht. Nacheinander schickt der Herr Hund, Knüppel, Feuer, Wasser, Kalb, Metzger. Folgenlos. Dann schließlich: den Henker. Der bringt die Reihe in Bewegung.

Harald Poelchaus Leben aber belegt, daß und wie man sich umsichtig, mutig, mit Hilfe von Freunden und Vertrauten, dem Willen der Macht widersetzen kann.

Als Student in Marburg fand er zu den religiösen Sozialisten. „Sie meinten, die Stunde fordere eine sozialistische Entscheidung, wenn dem Menschen seine Möglichkeit entfaltet werden solle.“ Und dann, an der Hochschule für Politik in Berlin gab es „einen Kreis von jüngeren Industriearbeitern, an dem wir teilnehmen durften. Die dort gewonnenen Freundschaften hielten viele Jahre lang...“

Einer jener Industriearbeiter war mein Vater, Ernst Wüste. Ihre Freundschaft hielt lebenslang. Christ und Kommunist.

Harald Poelchau, der als Gefängnispfarrer in Tegel und Plötzensee, später auch in Brandenburg, manche Möglichkeit hatte, half nicht nur ihm über die vielen, schweren Jahre seiner Haft, unter permanenter Bedrohung des eigenen Lebens; vielen Hitlergegnern stand er in den letzten Stunden bei, gab ihre Briefe und Grüße weiter, begleitete sie zur Hinrichtung.

Über sein Leben kann man vielfältig nachlesen. Was er in aller Stille während der Naziherrschaft leistete, steht ohne Beispiel da. Ob man es heute wahrhaben will oder nicht: Poelchaus Leben steht für den Satz, daß man als Christ auch Sozialist sein müsse.

Er würde mich adoptieren, wenn die Nazis meiner Mutter das Erziehungsrecht nach der Verhaftung meines Vaters aberkennen würden, hatte er gesagt. Zwar wußte ich damals von all dem fast nichts, nur, daß er den nicht legalen Kontakt zu meinem Vater hielt. Später erfuhr ich, daß er sogar über Pläne für dessen Flucht nachgedacht hat.

Ohne Vater und sehr oft getrennt von der Mutter, wäre meine Kindheit ohne ihn so unendlich viel ärmer und unsicherer gewesen. Seine schützende Hand gab mir Sicherheit.

Danke, Harald.

Harald Poelchau

5. Oktober 1903 - 29. April 1972

1922-27 Studium der Theologie in Bethel, Tübingen, Marburg, Berlin und Breslau

1927-28 Wohlfahrtsschule der Hochschule für Politik Berlin, Staatliche Fürsorgeprüfung

1928-30 Geschäftsführer der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichtshilfe in Berlin

1933-45 Strafanstaltspfarrer in Berlin-Tegel und zeitweilig in Plötzensee und Brandenburg

1941-44 Mitarbeit im Kreisauer Kreis

1946-48 Vortragender Rat für Gefängniswesen bei der zentralen Justizverwaltung der SBZ / Lehrauftrag an der HU

1949-51 Gefängnispfarrer in Tegel

1951-72 Sozialpfarrer der evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg

1972 Verleihung der Yad-Vashem-Medaille der Gerechten der Völker

Ernst Wüste an an Harald Poelchau

02.09.1945:

„Ich war kaum in Neukölln angelangt, als mich gleich einige Genossen mit der Frage nach Deinem Schicksal überfielen. Aus den begeisterten Gesprächen über Deine unerschrockene Haltung entnahm ich die große Achtung und Wertschätzung, die Dir die Neuköllner Kommunisten entgegenbrachten. ...“

„Offen gesagt, mir ist im Grunde darum zu tun, endlich aus der tagespolitischen, engen Parteikleinarbeit herauszukommen, an der ich nun mal keine reine Freude mehr gewinnen kann ..“

Dorothee Poelchau an Berta Wüste

28.10.1968:

„Ein besonders schönes Geschenk war eine Kassette mit 75 Briefen, die ein Freund gesammelt hatte und in der jeder erzählte, wie er Harald kennengelernt hat oder was er mit ihm erlebt hat und so entstand eine Art Lebensgeschichte. Willst Du nicht auch noch einen Beitrag schreiben? Wir haben doch so viel miteinander erlebt und wir hätten Dich gern dabei!“

Harald an ..?

05.03.1946

„... dann zu Wüstes, wo wir erheblich Kaffee tranken, den neuen kleinen Ofen besichtigten, den wir in H. für die Wohnstube gekauft haben und den Ernst gelegentlich herüberfahren lassen soll. Ich verabredete dort, daß ich am nächsten Sonntag einen Vortrag über Christentum und Sozialismus dort im Heim halten soll. “