Sprecht offen und ehrlich! Um Gottes willen offen und ehrlich!

Wir in Reinickendorf • 06/2008

Zum 25. Todestag von Anna Seghers

von Werner Wüste

Als die Nazis die Macht übernahmen, war Anna Seghers gerade im 33. Lebensjahr. Mit ihrer Erzählung vom „Aufstand der Fischer von St. Barbara“ bekannt geworden, hatte sie den Heinrich-Kleist-Preis erhalten, war Antifaschistin, Kommunistin. Sie ging nach Frankreich. Von Marseille aus floh sie 1941 nach Mexiko und kehrte 1947 von dort nach Deutschland zurück.

AN DEN BÜRGERMEISTER VON BERLIN-REINICKENDORF

Berlin, den 4. Juli 1947

Der französische Kulturattaché befürwortet auf das wärmste den Antrag der Frau Netty Radvanyi, bekannt unter ihrem Schriftstellernamen Anna Seghers, die sich dringend nach Konstanz begeben muss, um dort mit ihrem deutschen Verleger Verhandlungen über die Herausgabe neuer Romane abschließen zu können.
Frau Seghers ist Gast in meinem Hause, Berlin-Frohnau, Fürstendamm 57.“


(Gefunden in „Anna Seghers, Hier im Volk der kalten Herzen, Briefwechsel 1947“, herausgegeben von Christel Berger, Aufbau Taschenbuch Verlag 2000.)

Aus der selben Quelle, 5. Juni 1947 an Christfriede Gebhardt:

Die Jugend gefällt mir am besten ... Weil man das Gefühl hat, dass sie noch fragt, dass sie noch nicht so verkrustet ist wie die älteren Leute (wie wir älteren Leute) ... Natürlich gibt es eine Menge junger Menschen, die auch misstrauisch oder verächtlich auf die FDJ sieht ... Die Leute in Deutschland sind ja genug irregeführt worden; da haben sie allen Grund zum Misstrauen ... sprecht offen und ehrlich, um Gottes willen offen und ehrlich, über die Fragen, die euch am meisten interessieren ...“

 

Und ein drittes Seghers-Zitat aus jenem Jahr, da sie, wir wissen nicht wie lange, Gast des französischen Diplomaten war:

Die Jugend muss das wirkliche Heldentum begreifen, das Heldentum des Widerstands, im eigenen Volk und im fremden Volk, damit sie den faulen Zauber des Naziheldentums verachten lernt. Denn diese Jugend scheint mir, im Gegensatz zu dem, was man oft darüber hört, mehr Anlass zu Vertrauen und Zuversicht zu geben als viele ihrer Väter. Sie ist wissbegierig und aufnahmefähig. Wir müssen scharf darauf achten, dass ihr die Faschisten nicht wieder „Ersatz“ liefern, nicht allerhand dreiste Lügen, nicht Surrogate für ihre ausgehungerten Körper und Gehirne. Sonst wird sie abermals für ein Schlachtfeld erzogen.“

Ich war damals Sechzehn. Also war wohl auch ich gemeint. Von Anna Seghers allerdings wusste ich noch nichts.

Obwohl, aber auch das konnte ich natürlich nicht ahnen, sie, wenigstens vorübergehend, in Cirka-fünf-Kilometer-Luftlinie-Distanz lebte. Ich wohnte in Hohen Neuendorf.

Damals las ich alles, was mit dem Kampf gegen die Nazis irgendwie zusammen hing. Auch sogenannte „KZ-Literatur“. Bald dann auch das „Siebte Kreuz“, das 1947 in Deutschland zunächst auszugsweise in Zeitungen veröffentlicht wurde.

Natürlich war ich in der FDJ.

Ich glaube, es wurde niemals so viel, so gerne, so spontan gesungen im Lande. So fühlten wir uns zusammengehörig. Und wir sangen nicht etwa ausschließlich die neuen Jugendlieder, sondern ebenso Volkslieder wie Schlager.

An manchem Wochenende gingen wir zum Enttrümmern, in Ermangelung lokaler nahmen wir uns der Ruinen in Bernau an, damals Kreisstadt von Niederbarnim. In Hohen Neuendorf zerschnitten und beseitigten wir Autowracks. Relikte des „Endsiegs“.

Es war uns unmöglich zu vergessen, dass gerade der schrecklichste Krieg zu Ende gegangen war. Wir hatten ihn ja erlebt. Und irgendwie überlebt. Und wir verstanden, dass Hunger und unsere Hilflosigkeit gegen die Kälte „nur“ dessen Folgen waren. Mehr als tausend Menschen erfroren und verhungerten im Winter 1946/47 in Berlin.

Zu unseren Versammlungen trafen wir uns im Bürgersaal des Rathauses, der uns „selbstverständlich“ zur Verfügung stand. Da machten wir „Politik“, ohne uns dessen so richtig bewusst zu sein.

Wir empfanden das Land in Aufbruchstimmung.

Nach diesem Krieg mit seinen Millionen Toten, nach dem schweren Anfang, dem Beginn des Aufräumens in größter Armut, unter heute nicht mehr vorstellbaren Entbehrungen lag ein Traum vom Glück in der Luft, geradezu ein Glücksversprechen. Naturgemäß am stärksten ausgeprägt, fast unbekümmert unter uns jungen Leuten.

Wer also damals sich vorstellen konnte, dass noch vorhandener oder wiederbelebter Faschismus dem entgegen stand, war von sich aus überzeugter Antifaschist. Ohne Verordnung.

Ja, wir sprachen offen und ehrlich untereinander, ohne Vorbehalte, obwohl wir diese dringliche Bitte von Anna Seghers gar nicht kannten. Wir orientierten uns an jenen, die die Lager überlebt hatten und zu uns kamen.

Irgendwann in den Jahren dann war uns unsere vorbehaltlose Offenheit verloren gegangen. Routine war eingezogen, Müdigkeit auch. Gefährliche Gewöhnung.

Und die Träume? – Träume vom Menschenglück sind unsterblich.