Erinnern – nicht verdrängen

Wir in Reinickendorf • 11/2008

Eines der letzten Opfer: Wilhelm Staehle

von Werner Wüste

Wilhelm Staehle. Ein Name, einige Daten, wenige Fakten; jedoch ausreichend, das Gedächtnis anzuregen, Hirnströme in Bewegung zu setzen. Da scheinen Episoden auf. Schicksale bringen sich in Erinnerung.

Staehles letzte Wirkungsstätte war die Invalidensiedlung in Frohnau. Nebenan, in Hohen Neuendorf, gab es ab 1945 ein Erholungsheim für Opfer des Faschismus. Im Oktober waren meine Eltern Leiter dieses Heims geworden.

Ich war gerade vierzehn. Die Begegnungen mit leibhaftigen aktiven Nazigegnern gaben mir starke Eindrücke.

Zum Beispiel ein kleiner, stiller Mann

Da war zum Beispiel ein kleiner, stiller Mann. Mittvierziger vielleicht, das Haar schon stark gelichtet; nichts auffallendes war an ihm. Und der erzählte dem erschrockenen, staunenden, zweifelnden Jungen, er habe einen Genickschuss überlebt. Zu einer Gruppe von Häftlingen aus dem Gefängnis in der Lehrter Straße habe er gehört, Verurteilten im Zusammenhang mit dem Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944, eine kleine Kopfbewegung habe ihm das Leben gerettet, eine kleine Bewegung zur Seite im Augenblick des Kommandos. Der hat genug, habe einer von der SS gesagt und ihm einen Fußtritt verpasst. - - - Nachts war er dann aus seiner Ohnmacht erwacht und hatte sich nach Hause geschleppt. Seine Frau habe ihn nicht erkannt.

Der Schuss war links neben dem Halswirbel eingedrungen und unterm rechten Auge ausgetreten. Er hat mir die Narben gezeigt. Die waren kaum zu sehen. Sie fielen nicht auf.

Mit Klaus tauschen meine Frau und ich, unregelmäßig regelmäßig, Bücher aus. Lesestofferweiterung, manchmal mit Hintergedanken. Letzter Tausch: Anna Seghers gegen Uwe Timm, Halbschatten, Kiepenheuer. Da lese ich auf den Seiten 256/257: „Einer von den acht Häftlingen ist er, Oberst Staehle, Kommandant des Invalidenhauses mit dem Friedhof... War wegen Begünstigung eines politischen Flüchtlings zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Hatte eine Jüdin versteckt. Der Kriminalrat und SS-Sturmbannführer Kurt Stawitzki kam und ließ ihn erschießen. Aufräumen vor der Götterdämmerung. Stawitzki liebte Wagner-Opern...“

Das geschah am 23. April 1945. Die Rote Armee schickte sich bereits an, Berlin zu befreien.

„Einer überlebte, verletzt, stellte sich tot, Herbert Kosney, und legte Zeugnis ab...

Und Stawitzki?

Starb friedlich, wie man so sagt, in Bad Godesberg, 1959.“

Wilhelm Staehle. Aus erzkonservativer Familie. Freund Goerdelers, dessen erklärtes Ziel war, gemeinsam mit Briten und Amerikanern nach angestrebtem Waffenstillstand gegen die Sowjetunion den Krieg fortzusetzen, eine Art gedankliche Vorwegnahme der NATO also.

Götterdämmerung

Oberst Wilhelm Staehle, ein Anti-Nazi. Seine letzte Wirkungsstätte: die Invalidensiedlung, geografisch am Rande von Hohen Neuendorf, politisch zu Berlin gehörend. 1945/46 gingen wir dort gelegentlich ins Kino. Es wurden französische Filme gegeben. An „Symphonie pastorale“ erinnere ich mich.

Von der B 96 führt der Staehleweg in die Siedlung. Dort findet man die Staehle-Gedenktafel.

Zwischen der Ermordung Staehles und der Befreiung des Zuchthauses Brandenburg lagen vier Tage, zwischen den letzten 27 (!) Exekutionen per Guillotine in Brandenburg am 20. April, Hitlers Geburtstag, und den Genickschüssen auf jene acht Männer nur drei. Götterdämmerung.

Befreiung

Mein Vater hat mir erzählt, wie die Befreiung des Zuchthauses Brandenburg am 27. April vor sich ging. Das war für mich die erste Schilderung überhaupt, lange bevor ich weitere hörte oder las. Wahrscheinlich darum, aber ganz bestimmt, weil sie meinen Vater und sein Leben betraf, habe ich später alle folgenden mit ihr verglichen, an ihr gemessen; nicht die Einzelheiten, die Vorgänge, aber ihre Glaubwürdigkeit, ihre Wahrhaftigkeit, ihre Wirkung auf Herz und Verstand. Und noch vor jener heroischen in Bruno Apitz´ Roman „Nackt unter Wölfen“ wie auch der Darstellung in dem gleichnamigen DEFA-Film hat mich die in dem Staudte-Film „Rotation“ tief bewegt:

Im Gefängnishof Lehrter Straße erwartet eine Gruppe von Häftlingen, zusammengedrängt in einer Ecke, die Erschießung. Die Kamera sieht in die Gesichter, alle Vorgänge finden nur akustisch statt: die Befehle an das Erschießungskommando der SS, die Schritte, schließlich der Feuerbefehl. Die Schüsse. - - - Doch niemand fällt. Vorsichtig und nur zögernd blinzeln die Häftlinge ins Licht, ungläubig, verstört, mit einem ersten, leisen Schimmer von Hoffnung. Auf der sehr hohen Mauer Rotarmisten.
So habe ich die Szene in Erinnerung.

Wem es schwer fällt, die Vernichtung des Nazistaates als Befreiung anzusehen, möge immerhin akzeptieren, dass es Menschen gab und gibt, die allen Grund haben, das Ende des Krieges, den Sieg der Alliierten, als Befreiung zu empfinden.

Und er möge jenen Gerechtigkeit geben, die ihre Freiheit, ihr Leben einsetzten. Allen.

Ralph Giordano: „Verdrängen nützt nichts. Es bedeutet nichts anderes, als dass Vergangenheit ständig als Gegenwart vor sich her geschoben wird.“