Erinnernd Mahnen und Bewahren!

Wir in Reinickendorf • 05-06/2014

Gedenkfeier für Nazi-Opfer bei der KBoN

Nachdenkliches von Lilo Joseph, Mitglied der Reinickendorfer Gruppe der VVN-BdA

Als Schulkind, das ist nun schon einige Jahre her, als noch „die Braunen“ in unserem Lande herrschten und der heutige S-Bahnhof „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“ noch „Wittenau (Kremmener Bahn)“ hieß, wusste ich nur, dass sich in dem hinter dem Bahnhof gelegenen Park eine „Irrenanstalt“ befinden sollte. Damals auch nur „Dalldorf“ genannt, womit die dort eingerichtete Nervenheilanstalt gemeint war. Diese abwertend gemeinte Bezeichnung hielt sich ziemlich lange, bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein. Und das, obwohl die im Jahr 1880 als „Irrenanstalt“ gegründete Einrichtung bereits in den 20er Jahren, also schon in der Weimarer Zeit in „Wittenauer Heilstätten“ umbenannt worden war.

Unheimlicher Ort

Diesen historischen Hintergrund kannte ich damals natürlich noch nicht. Für mich war nur bedeutsam, dass mir bei der Nennung dieses Namens unheimlich wurde, mir ein Schauer über den Rücken lief. Grad so, wie wenn ich mit dem Fahrrad durch den Tegeler Wald zum Baden nach Saatwinkel gefahren bin und möglichst schnell am Gefängnis vorbeikommen wollte. Das klang so unheimlich, so gefährlich. Heute jedoch weiß ich, dass diese Wirkung in der Nazizeit auch gewollt war. Denn wer sich hinter solchen Mauern befand, „gehörte nicht zum deutschen Volk, war nicht arisch, nicht reinrassig“, war eben „unwertes Leben“ und musste folglich ausgesondert und isoliert werden. Diese Furcht vor dem Unbekannten, Bedrohlichen ließ keinen Zweifel aufkommen, dass an den Abgesonderten und Verfemten Verbrechen begangen wurden.

Neue Namen - Neue Inhalte

Seither sind viele Jahre vergangen, und Deutschland wurde vom Naziterror befreit. Und seither wurde auch der Name dieser Einrichtung recht häufig geändert. Zunächst wurden im Jahre 1957 aus den „Wittenauer Heilstätten“ die „Karl-Bonhoeffer-Heilstätten“ und zehn Jahre darauf, als Ausdruck für den Wandel in ein psychiatrisch–neurologisches Krankenhaus wurden sie in die „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“ umbenannt. Nach der im Jahre 1997 erfolgten Zusammenlegung mit dem Humboldt-Krankenhaus entstand das „Krankenhaus Reinickendorf“. Und schließlich erhielt die Einrichtung nach der Zusammenlegung der landeseigenen Kliniken zum Krankenhauskonzern Vivantes zum 13. März 2002 den Namen „Humboldt-Klinikum, Standort Oranienburger Straße“, von alten Westberlinern zumeist noch häufig mit „Bonnies Ranch“ bezeichnet.

Mir fällt bei den häufigen Namensänderungen auf, dass sie nicht nur mit strukturellen Veränderungen einhergingen, sondern auch Folge geänderter politischer Landschaft und der damit verbundenen ideologischen Überzeugungen waren. Heute können Behinderte eben nicht mehr stigmatisiert werden und ausgesondert werden. Wir erkennen ihnen einen Anspruch auf ein würdevolles Leben und Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte zu. Das ist uns heute selbstverständlich und nicht nur im Grundgesetz verankert.

Dunkle Vergangenheit

Das war jedoch völlig anders in der „braunen Vergangenheit“, als die Nazis noch ihre Macht ausübten und psychisch oder neurologisch Erkrankte aussonderten, weg sperrten und schließlich auch töteten. Diese Menschen hatten kein Existenzrecht. Sie schadeten „dem Volkskörper“ und besaßen nur ein „unwertes Leben“. Es waren viele, die dieser menschenverachtenden Ideologie folgten und halfen, sie in praktisches Handeln umzusetzen. Auch Ärzte und Pfleger waren dabei, die doch eigentlich ihrem Ethos verpflichtet waren und Menschen heilen und deren Leben bewahren sollten. Eine erst im Jahr 1994 am Parkeingang angebrachte Gedenktafel erinnert uns heute an diese Schreckenstaten mit den sehr eindrucksvollen Worten:

IN DEN WITTENAUER HEILSTÄTTEN WURDEN 1934 - 1945 TAUSENDE VON PATIENTEN ZU OPFERN NATIONALSOZIALISTISCHER VERBRECHEN.

DAS LEBEN DIESER MENSCHEN GALT ALS WERTLOS. SIE WURDEN ALS FORTPFLANZUNGSUNWÜRDIG BEZEICHNET UND ZWANGSSTERILISIERT. SIE STARBEN DEN GEWALTSAMEN HUNGERTOD. SIE WURDEN IN TÖTUNGSANSTALTEN DEPORTIERT UND DORT MIT MEDIKAMENTEN VERGIFTET ODER IN GASKAMMERN ERMORDET.

DIESE MENSCHEN WAREN SCHUTZBEFOHLENE. SIE WURDEN VON JENEN GETÖTET, DIE SIE SCHÜTZEN SOLLTEN. DIE VERBRECHEN AN DIESEN WEHRLOSEN KRANKEN SIND UNSÜHNBAR. DIE SCHULDIGEN SIND BEKANNT.
DIE OPFER SIND UNVERGESSEN.!!

Ehrung der Opfer

Am Holocaust-Gedenktag vor zwei Jahren legten wir, die Reinickendorfer Gruppe der VVN-BdA gemeinsam mit Freunden von den Reinickendorfer LINKEN Blumengebinde an dieser Tafel nieder und besuchten anschließend die neu gestaltete Ausstellung im Haus 10 der ehemaligen „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“. Diese mahnende Ausstellung „totgeschwiegen, 1933 - 1945. Zur Geschichte der Wittenauer Heilstätten“ berührte uns sehr. Wir fühlten uns in unserem Bemühen bestärkt, das geschehene Unrecht nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und uns jeglicher Ausgrenzung anderer Menschen aus welchem Grunde auch immer zu widersetzen.

Erste Gedenkfeier an diesem Ort

So folgte ich selbstverständlich dem Hinweis eines Freundes auf die bevorstehende Gedenkfeier des Evangelischen Kirchenkreises Reinickendorf am 27. März auf dem alten Friedhof der „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“, zumal hier noch nie eine Gedenkfeier abgehalten wurde. Dass sie überhaupt stattfinden konnte, ist dem Elan und der Initiative der Pfarrerin Irmela Orland und dem Pfarrer Bernd Schade zu danken. Ihrer Einladung folgten an diesem Tag mehr als einhundert Menschen. Darunter achtzig Reinickendorfer Schülerinnen und Schüler sowie einige Hinterbliebene, die zum Teil von weither angereist waren, um am Platz ihrer Lieben Blumen niederzulegen.

Gräber nicht mehr zu finden

Doch wo sind die Gräber? Sie sind nicht mehr zu finden! Die nur noch verwilderte und von Efeu überwucherte Fläche verdeckt den einstigen Friedhof. So stand der Pfarrer auf dem sonst von Joggern genutzten Weg und hielt seine Predigt. Und dennoch gelang es ihm mit bewegenden Worten, der Feier einen würdigen Rahmen zu geben. Er ermahnte uns, nicht zu vergessen, dass viele der hier ruhenden Toten nicht freiwillig aus dem Leben gegangen waren. Zahlreiche Dokumente belegen, dass in den Jahren zwischen 1939 und dem Ende des Krieges im Jahr 1945 in dieser Stätte ein großer Teil der über Viertausend Verstorbenen umgebracht wurde. Das besagen die überaus hohen Zahlen an Todesfällen sowie auch der hohe Anteil von Juden und Ausländern unter den Toten.

Vor dem Vergessen bewahren

Besonders ergriffen wurde ich von der Anteilnahme der Schülerinnen und Schüler an der Gedenkfeier. Sie hatten es übernommen, den Ermordeten ihre Würde zurück zu geben, indem sie deren Namen, Geburtstag und Todestag verlasen. Damit bewahrten sie die Opfer vor ihrem Vergessen und ehrten sie, indem sie Rosen und Tulpen auf die verwilderten und von Efeu überwucherten Flächen des einstigen Friedhofs ablegten.

Sehr nachdenklich verließ ich die Gedenkfeier: Ja, wo sind die Gräber geblieben? Nur 31 Umbettungen hatte es gegeben. Demnach müssten die Gräber doch noch gefunden werden, doch nichts erinnert mehr an einen Friedhof.

Werden die Opfer totgeschwiegen?

Sollen die hier Bestatteten erneut „totgeschwiegen“ werden? Auf meinem Straßenatlas aus dem Jahr 1996 ist der alte Friedhof noch auf dem Gelände der früheren Nervenklinik markiert. In einem neueren Berliner Atlas konnte ich ihn jedoch nicht mehr finden. So lässt sich die Vermutung nicht ausschließen, dass es beabsichtigt ist, ihn verwildern zu lassen und vergessen zu machen. Möglicherweise soll Platz für günstig zu verkaufendes Bauland entstehen. Nicht wenige Teilnehmer äußerten diese Befürchtung. Doch dies soll verhindert werden, eventuell mit der Unterstützung eines noch zu bildenden Freundeskreises. Und daran will ich mich beteiligen, das verspreche ich den Opfern.

Lilo Joseph,
Mitglied der Reinickendorfer Gruppe der VVN-BdA