Gedenkfahrt nach Lidice

Wir in Reinickendorf • Sommer 2015

Mitten im Juni konnte ich an einer Fahrt zum Gedenken an die Zerstörung des im sanften Tal gelegenen kleinen tschechischen Dorfes Lidice teilnehmen. Auf Geheiß der Nazis sollte es am 10. Juni 1942 als Vergeltungsakt für das wenige Tage zuvor erfolgte Attentat auf den in Prag residierenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich ausgelöscht und von der Landkarte getilgt werden. Das gelang den Nazis nicht. Im Gegenteil: Das furchtbare Massaker an den völlig unschuldigen und nichts ahnenden Bewohnern des nahe Prag gelegenen Dorfes, ist nicht vergessen!

Grauenvolle Stunden mussten seine Bewohner erleben. Männer, Frauen und Kinder aus dem Schlaf gerissen wurden gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Die Männer zusammengetrieben und sofort erschossen; 192 jüngere und ältere. Wer bereits 16 Jahre alt war, zählte als Mann. Die Mütter, gewaltsam ihrer teils noch sehr kleinen Kindern entrissen, wurden als Arbeitssklavinnen ins Deutsche Reich, in das Konzentrationslager Ravensbrück verschleppt. Die Kinder, in speziell umgerüsteten Bussen verfrachtet, deren Abgase in das Businnere strömten, fuhren in den sicheren Tod. Zuvor jedoch wurde sorgfältig geprüft und aussortiert, wer als „eindeutschungsfähig“ bewertet wurde. Was für ein perfides Wort des Nazijargons, entsprungen einem rassistischen Größenwahn! Diese „rassisch für gut“ befundenen Kinder gelangten in ein spezielles Heim nach Litzmannstadt, so der Name für das von den Nazis umbenannte Lodz.

Das Massaker überlebten nur 143 Frauen und 17 Kinder.

Heute erinnert eine liebevoll gestaltete Gedenkstätte, von tschechischen und Künstlern aus aller Welt geschaffen, an die Tragödie. Besonders ergreifend das bronzene Mahnmal an die 82 ermordeten Kinder.

Oberhalb des einstigen Dorfes erstreckt sich ein großflächiger prächtiger Rosengarten, gespendet von Besuchern aus nah und fern. Und seit einiger Zeit ist es üblich, dass Paare nach ihrer Trauung einen weiteren Rosenbusch dazu setzen.

Beim Anblick dieser Rosen erinnerte ich mich an ein anderes Rosenbeet nahe dem Reinickendorfer Rathaus. Vor Jahren angelegt und seither gepflegt von Reinickendorfer Schülerinnen und Schülern. Jährlich am 9. November, treffen sie sich hier um der Opfer der Pogromnacht im Jahr 1938 zu gedenken.

Wiederholt bin ich stark berührt, wenn ich die in der Umrandung der Rosenrabatte eingelassene Steinplatte mit den Worten Thomas Manns lese:

Deutsche,
ihr sollt es wissen
Entsetzen,
Scham und Reue ist das Erste,
was not tut.

An diese Worte erinnerte ich mich auf der Fahrt nach Lidice, die ich mit 26 Schülerinnen und Schülern aus dem Reinickendorfer Bertha-von-Suttner-Gymnasium und der Gustav-Freytag-Oberschule, den Jahrgängen zwischen 1998 und 2001 zugehörig, sowie mit 22 Freunden und Mitgliedern des Reinickendorfer Arbeitskreises Politische Bildung antreten konnte. Schon oft hatte dieser Arbeitskreis zu einer Fahrt in diesen Gedenkort eingeladen. Ich konnte teilnehmen, weil mich der Vorsitzende dieses Vereins, Helmut Walz, dazu eingeladen hatte. Wir wurden bekannt, als er meinen Offenen Brief zum Gedenken an den 70. Jahrestag der Befreiung mit unterschrieb. Aus unserer Reinickendorfer VVN-VdA-Gruppe begleitete mich unser Kamerad und Freund, Dr. Klaus Gloede (stv. bezirksvorsitzender der LINKEN Reinickendorf).

Jährlich, am Wochenende nach dem 10. Juni wird in einem würdigen Rahmen des Massakers gedacht. In diesem Jahr leitete am Freitag ein besinnliches Abendkonzert junger Prager Künstler das Gedenken ein. Besonders stark berührte es uns, als bei zunehmender Dunkelheit im tiefer gelegenen Tal kleine Lichter aufleuchteten, erinnernd an die dort einst bewohnten Häuser.

Am Samstag das ehrende Gedenken mit Kranzniederlegungen am Mahnmal, begleitet von gedämpften Klängen einer Militärkapelle. Obwohl viele Menschen gekommen waren, Familien mit kleinen Kindern und Großeltern, Betagte und eine große Anzahl Jugendlicher, lag über dem mahnenden Erinnern eine Ruhe und würdevolle Einvernehmlichkeit.

Eine Begegnung mit zwei Überlebenden ergriff uns und vor allem unsere Jugendlichen besonders. Die 93jährige Mila Kalibová wie auch die 82jährige Marie Supiková sprachen über die Schicksalsschläge ihres Lebens. Die Ältere, von den selektierenden Nazischergen als 16jährige bereits zur Frau erklärt, wurde mit den anderen Frauen nach Ravensbrück ins Konzentrationslager zur Sklavenarbeit verschleppt.

Ein anderes Schicksal erlitt die jüngere, einst blonde, blauäugige Marie. Als „eindeutschungsfähig“ aussortiert und damit nicht sofort umgebracht, wurde sie in das dafür eingerichtete Heim in Litzmannstadt deportiert. Mit weiteren polnischen Kindern musste sie in einem Heim auf Deutsche warten, die sie adoptieren würden. Sie durfte nicht Polnisch sprechen, bei Verstoß gab es Strafen und Prügel. So lernte sie schnell Deutsch. Und eines Tages, nach vorausgegangener längerer Besichtigung, wurde sie von einem kinderlosen deutschen Ehepaar für gut befunden und konnte zu Ingeborg Schiller werden. Sie gewöhnte sich an die Zieheltern.

Nachdem ihre Mutter aus dem KZ befreit und heimgekehrt war, suchte sie sofort nach ihrem Kind. Sie wusste nicht, was mit ihrer Tochter bei dem Massaker geschehen war. Über eine gemeinsame Suchaktion der tschechischen Repatriierens-Kommission und der Berliner ODF fand sie ihre Tochter und konnte sie am 7. August 1946 in die Arme nehmen. Doch sprechen konnten sie nicht miteinander. Ingeborg verstand ihre Mutter nicht, sie hatte ihre gemeinsame Muttersprache vergessen.

Zum Ende ihrer Berichte fehlten uns Worte um Danke zu sagen; unsere Jüngeren nahmen die betagten Damen spontan in ihre Arme, Dank und Anteilnahme bekundend. Unser Organisator Helmut Walz fand vermittelnde Worte, um diesen beiden Überlebenden von Lidice für ihre Berichte und ihre Freundlichkeit uns gegenüber zu danken. Eindringlich warnte er vor neuer Gefahr und neuem Hass und appellierte an unsere persönliche Verantwortung, die trotz allem entstandene Freundschaft und das gewonnene Vertrauen zu wahren und zu verteidigen. Als Versprechen nahmen wir seine Worte mit nach Hause.

Lilo Joseph,
Mitglied der Reinickendorfer Gruppe der VVN-VdA

Der Artikel erscheint in der nächsten Ausgabe des "Roten Winkel"