„Scharfenberger“

Wir in Reinickendorf • 09/2015

„Lernen mit Kopf, Herz und Hand“ (Motto der Schule)

Meine Gesprächspartner denken gern an ihre Zeit auf der Schulfarm Insel Scharfenberg zurück:

Werner Doblies, Jg. 1938, von 1972 bis 2003 Physik- und Mathematiklehrer

Jürgen Schimrock, Jg. 1958, von 1970 bis 1976 Internatsschüler

Yannik Wiedenbrück, Jg. 1997, externer Abiturient von 2015

Sie haben die obligatorische „Inseltaufe“ mit Freude erduldet, können sich seitdem „Scharfenberger“ nennen. Nein, sie sind keine Elitetruppe, aber doch etwas Besonderes, Eigenes, was nicht jeder von sich sagen kann. Ich spüre: Sie sind stolz darauf, dazu zu gehören.

Rückblickend halten alle Drei die auf der Schulfarm verbrachten Jahre für wichtig in ihrem Leben. Freundschaften seien entstanden, die immer noch halten. Der Youngster hört zu, wie die Erinnerungen der beiden Älteren nur so heraussprudeln. Yanniks Erlebnisse sind noch ganz frisch. „Eine schöne Zeit“, meint auch er, selbst wenn ihn manche „organisatorischen Katastrophen“ und „unmögliche Lehrer“ auf die Palme gebracht hätten.

Scharfenberg hat Langzeitwirkung.

Der reformpädagogische Schulversuch, 1922 mit „Unterstützung aller Parteien von rechts bis links“ durch Wilhelm Blume ins Leben gerufen, in der Nazizeit gleichgeschaltet und missbraucht, nach 1945 neuen Bedingungen immer wieder angepasst und gegen Schließungspläne verteidigt, lebt immer noch. Schule anders zu machen, fasziniert Lehrer und Schüler bis heute, Eltern nicht weniger. Diese Schule auf einer Insel, wo Goethe und Einstein, Informatik und Grundgesetz mit Pferden und Schweinen, Fußballplatz und Bildhauerei, Bienenhaus und Wassersport, eigenem Badestrand und Tonstudio, Gärtnerei und Darstellendem Spiel koexistieren, mehr noch: in einem alternativen Lehr- und Lernkonzept erfolgreich zusammengefügt werden, eine solche Schule IST anders – und deshalb wohl übernachgefragt.

Einst kamen die Schüler aus linksliberalen bürgerlichen, für Reformen aufgeschlossenen Elternhäusern und aus Arbeiterkreisen, die sonst das von Höheren Schulen verlangte Schulgeld nicht hätten bezahlen können. Heute finanziert das Land Berlin die Einrichtung. Internatskosten und Essengeld sind zu verkraften - „wenn das Essen nur geschmeckt hätte!“ (Yannik)

Mich interessiert, wie sie auf die Insel gekommen sind. Klar, mit der Fähre.

Warum gerade Scharfenberg?

Werner war von Zehlendorf nach Heiligensee gezogen und konnte auf der Schulfarm alles das zeigen, was er drauf hatte: Imkern, Sterne angucken, Vögel beobachten, zweimal deutsche Schulschachmeisterschaften auf der Insel organisieren – und nebenbei den Zöglingen Mathe und Physik beibringen. Das Wahlfach „Physik der Musik“ war eine seiner Ideen: „Hänschen-klein“ gespielt auf Cola-Flaschen zum Schuljahresabschluss in der Mensa. „Dobliiiis“, enthüllt sein Schüler Jürgen fast 40 Jahre später, hat mir das Abi gerettet. Werner hat es vergessen – und das ist wohl auch gut so. Einer der Absolventen – heute in Boston zuhause - möchte ihm (und anderen Lehrern) aus Dankbarkeit das Bundesverdienstkreuz verleihen, wenn er könnte.

Jürgen hatte seine Eltern geschockt. Er hatte von der Schulfarm auf einer Insel gelesen, wollte weg von Zuhause und genau dahin. „Schimmi“ erlebte die Zeit des Rebellierens gegen bisher gültige Regeln nach 1968 auf Scharfenberg. Freiräume wurden erkämpft, oft auch angeboten – und überzogen, sogar bis zum zeitweiligen „Inselverbot“. Einige Sozialarbeiter lernten selbst noch, standen mehr „aufs Gespräche führen & Wein trinken“, wie es in einer Festschrift heißt. Aber: Die Insel hat, die Lehrer und Pädagogen haben positiv geprägt, zumindest in sozialer Hinsicht. Wer wollte oder konnte, dem boten sich Möglichkeiten, von denen „normale“ Schüler in Berlin oft nur träumen durften. Das wird vielleicht nicht jeder von seiner Schule sagen können.

Yannik lockte die Natur, die idyllische Ruhe zum Lernen, sagt er jedenfalls. Und dass andere aus der Klasse mit nach Scharfenberg gingen. Als Externer – heute sind sie die Mehrzahl – jeden früh mit dem Bus von Tegel nach Tegelort, bloß die Fähre nicht verpassen. Und wenn doch? Nach Unterrichtsschluss oder bei leider üblichen Freistunden auch zwischendurch eine Viertelstunde durch den Wald nach Konradshöhe oder zurück zum Bus. Die da herum laufenden Wildschweine sind nun wahrhaftig kein Vergnügen!

Abstinenzen

Ich mache die Drei aufmerksam: 1928 hätte „man“ sie in der „sich selbst verwaltenden Siedlungsgemeinschaft“ wahrscheinlich gar nicht aufgenommen. Neben körperlicher Abhärtung und „stählerner Anspannung“ sowie einer „ausgesprochenen Neigung für ein einfaches Leben draußen in der Natur, frei von den zersplitternden Wirkungen der Großstadt“ wurde in den Anfangsjahren der Verzicht auf „Rauchen, Alkohol, Sonderhaltungen von Lebensmitteln, Luxus, politische oder religiöse Unduldsamkeit, Zugehörigkeit zu politischen Jugendvereinen“ als Voraussetzung für den Eintritt in die Schulfarm vorgeschrieben.

Meine Nachfrage: Rauchverbot? Werner raucht nicht; Jürgen relativiert, die „Älteren“ durften; Yannik bestätigt es für die ganze Insel. Und ergänzt augenzwinkernd: Lehrer, Erzieher und Schüler hätten immer Auswege gefunden, es zu umgehen.

Politische Abstinenz? Keineswegs. Die Drei sehen mich an: Geht doch gar nicht. Übereinstimmende Meinung der Jüngeren: Scharfenberg hätte sie politisiert, auch politisch geprägt. Jede Zeit hatte ihre Themen – seinerzeit Vietnam, Ausländer, Mitbestimmung und andere Streitpunkte; heute entdecken die „Scharfenberger“ Barcelona, London oder einfach den Prenzlauer Berg. Yannik weist auf ein – wie er meint - Phänomen der Gegenwart hin: Die Lehrerschaft sei weiter links eingestellt als die Schüler.

Natürlich kennen meine Gegenüber die Geschichte der Insel. Yannik hatte mir vor dem Gespräch die Insel und ihre Gedenkorte gezeigt. Die Scharfenberg-Schüler Hans Coppi, Hanno Günther (s. Gedenktafel), Hans Lautenschläger und Heinrich Scheel gehörten zur „Roten Kapelle“.

Weißt du noch?

Geschichten werden erzählt, lustige Streiche in Erinnerung gebracht, Originale von einst erwähnt. Werner und Jürgen erinnern sich an Siegfried „Bonzo“ Kühl, 39 Jahre, Kunstlehrer auf der Insel, Mitbegründer der Graphothek im Märkischen Viertel. Im Juli 2015 ist er gestorben; Werner war bei der Beisetzung.

Yannik hält sich zurück. Er wird seinen Weg gehen, wie die beiden anderen ihren Weg gegangen sind. Sein Geschichtslehrer – wir hatten bei ihm reingesehen – freut sich über den Studienplatz an der FU ab Oktober und wünscht ihm nochmals viel Glück.

Bis zur 100–Jahrfeier der Schulfarm ist es gar nicht mehr so lange hin. Vielleicht treffen sich die Drei zu Pfingsten 2022 beim „Tag der Alten“ auf der Insel mit Ihresgleichen, den „Scharfenbergern“.

Klaus Gloede

Bei der Erarbeitung des Textes wurden die Festschriften zum 60., 75. und 90. Jubiläum der Schulfarm sowie Gedanken aus einer Studie zur Bildungsreform von Dietmar Haubfleisch „Schulfarm Insel Scharfenberg“ von 2001 hinzugezogen.