Auswertung der Bundestagswahl

Interview des Kiezblatts 11/2017 mit Felix Lederle, Bezirks- und Fraktionsvorsitzender der LINKEN Reinickendorf

Interview des Kiezblatts 11/2017 mit Felix Lederle, Bezirks- und Fraktionsvorsitzender der LINKEN Reinickendorf

Was bedeutet für Sie die Entscheidung Reinickendorfs?

Im Reinickendorfer Wahlergebnis spiegeln sich der Bundestrend und das Ergebnis auf Bundesebene wider. Die beiden Parteien, die in den letzten vier Jahren im Bund regiert haben, mussten beide auch im Bezirk schwere Verluste hinnehmen. Auch wenn Bündnis 90/ Die Grünen und DIE LINKE unter schwierigen Bedingungen leicht zulegen konnten, hat das erweiterte linke Spektrum – r2g – leider auch in Reinickendorf etwas an Boden verloren. Deutlich zugelegt haben die FDP und die AfD. Trotz Verlusten der CDU bei den Erst- und Zweitstimmen von fast 10 % konnte Dr. Frank Steffel den Wahlkreis erneut deutlich und mit annährend dem gleichen Abstand zum SPD-Kandidaten wie 2013 direkt gewinnen. Mein Kandidat ist er freilich nicht, aber selbstverständlich habe ich Herrn Steffel zur Wiederwahl gratuliert. Bemerkenswert finde ich, dass die konservativen Bindungskräfte an die CDU in ihrer Hochburg in Frohnau und Hermsdorf so stark sind, dass immerhin dort verhindert werden konnte, dass die AfD ein zweistelliges Ergebnis erzielt. Die Tatsache, dass die AfD ansonsten überall im Bezirk zweistellige Ergebnisse erzielt hat, stellt eine Herausforderung für alle demokratischen Kräfte im Bezirk dar. Dass eine Partei zweistellige Wahlergebnisse erreicht, die in vielen Fragen keine Position einnimmt und keine konkreten Problemlösungen aufzeigt, wenn es z.B. um die Bekämpfung der zunehmenden Altersarmut in Deutschland geht, stimmt mich sehr nachdenklich.

Was bedeutet die Entscheidung Reinickendorfs besonders für Ihre Partei?

Auch hier schlägt der Bundestrend durch. DIE LINKE hat überall in den alten Bundesländern und im gesamten Westteil Berlins spürbar an gesellschaftlicher Akzeptanz hinzugewonnen und sich als gesamtdeutsche und gesamtstädtische Partei zu einem festen Bestandteil des deutschen Parteiensystems entwickelt. Entsprechend liegt DIE LINKE sowohl nach Erst-, als auch nach Zweitstimmen flächendeckend in ganz Reinickendorf über 5 %, wenn man die AGH-Wahlkreise zugrunde legt. Bezogen insbesondere auf den Norden Reinickendorfs ist das eine sehr erfreuliche Entwicklung. Der Berliner Trend, dass DIE LINKE besonders bei urbanen Milieus in der Innenstadt punkten kann – DIE LINKE ist die stärkste Partei innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings! – zeigt sich durchaus auch in Reinickendorf, wo die besten Ergebnisse erneut in Reinickendorf-Ost und –West und somit im Süden des Bezirks in Richtung Berliner Innenstadt bzw. Mitte/Wedding erzielt werden konnten. Sorge bereitet uns v.a. die Entwicklung im Märkischen Viertel, wo sich in den letzten Jahren leider besonders deutlich ein Rechtsruck vollzogen hat. Wir werden das MV, das trotz aller sozialer Probleme insgesamt auf einem guten Weg ist, nicht der AfD überlassen. Das Schüren von Ängsten vor Überfremdung ersetzt keine konkrete Sachpolitik zur Lösung von Problemen und wird bereits mittelfristig auch zu wenig sein, um Wahlen zu gewinnen.

Wie begründen Sie den Zuwachs/Verlust Ihrer Partei bei der Listenwahl (Zweitstimme)?

Der Zugewinn der Partei DIE LINKE bei den Zweitstimmen erklärt sich meines Erachtens mit einem engagierten Wahlkampf der Genossinnen und Genossen vor Ort, einer konstruktiven Kommunalpolitik in der BVV, einer sachorientierten Politik in Regierungsverantwortung im Zusammenspiel mit den außerparlamentarischen Initiativen im Land, was mit dem zweiten Platz hinter der CDU zu einem besonders guten Abschneiden der LINKEN in Berlin geführt hat und einer engagierten Oppositionsarbeit der Linksfraktion im Bundestag sowie einer insgesamt gestiegenen gesellschaftlichen Akzeptanz der LINKEN in den alten Bundesländern und im Westteil Berlins.  

Wie begründen Sie den Zuwachs/Verlust Ihrer Partei bei der Personenwahl (Erststimme)?

Der Zugewinn der Partei DIE LINKE bei den Erststimmen erklärt sich meines Erachtens mit einem engagierten Wahlkampf der Genossinnen und Genossen vor Ort und dem unermüdlichen Einsatz unseres Direktkandidaten, Hakan Taş, der ein Ergebnis erzielt hat, das mit den Kandidatinnen von Bündnis 90/ Die Grünen und FDP vergleichbar und nicht weit von unserem besten Erststimmenergebnis von 2009 entfernt ist. Der Abstand zwischen Erst- und Zweitstimmen ist gering und erklärt sich damit, dass wir einen Zweitstimmenwahlkampf geführt haben.   

An welchen "Stellschrauben" wird Ihre Partei in den nächsten 4 Jahren "drehen", um den Verlust zu stoppen/den Zuwachs noch weiter zu steigern?

Ich schätze ein, dass die nächsten Bundestagswahlen nicht erst in vier Jahren sattfinden, wenn auf Bundesebene eine Koalition aus inhaltlich so unterschiedlich aufgestellten Parteien wie CDU, CSU, Bündnis 90/ Die Grünen und FDP gebildet wird. Auf Landesebene werden wir alles daran setzen, Schritt für Schritt und solidarisch mit unseren Koalitionspartnern SPD und Bündnis 90/ Die Grünen den fortschrittlichen und auf die Mehrheitsgesellschaft in Berlin ausgerichteten r2g-Koalitions-Vertrag mit Leben zu erfüllen und umzusetzen, wodurch alle drei Regierungsparteien gewinnen werden. Im Bezirk werden wir auch weiterhin keine Fundamentalopposition betreiben, sondern uns unbeirrt und geduldig im Rahmen der begrenzten kommunalpolitischen Spielräume insbesondere für mehr soziale Gerechtigkeit und mehr Bürgernähe und Bürgerbeteiligung einsetzen. DIE LINKE hat ihr Potential in Reinickendorf noch lange nicht ausgeschöpft.

Wie steht Ihre Partei eigentlich zu dem gängigen Prozedere, die Öffentlichkeit über Wahlergebnisse derart zu informieren, dass die genannten Prozentsätze nicht die Stimmungslage der betroffenen Wahlberechtigten sondern nur die der zur Wahl gegangenen widerspiegelt?

Meines Erachtens erklärt sich diese Praxis dadurch, dass es wissenschaftlich weniger aufwändig und auch schneller möglich ist, fundierte Umfrageergebnisse zu erzielen, wenn unmittelbar nach dem Wahlgang diejenigen befragt werden, die ihre Stimme abgegeben haben. Das Interesse der Öffentlichkeit konzentriert sich ja auch auf den Zeitraum unmittelbar nach der Wahl und in den Folgetagen, weshalb schnelle Umfrageergebnisse gefragt sind. Zweifellos sind Untersuchungen zu den Einstellungen und Präferenzen der Nichtwähler aber ebenfalls sehr wichtig und dies gerade für die Partei DIE LINKE, die sich für Menschen einsetzt, die sich in einer sozial schwierigen Lage befinden und oftmals von der herrschenden Politik nicht vertreten fühlen und bisweilen dann so frustriert sind, dass sie nicht einmal wählen gehen. 

Wer profitiert eigentlich vom Fehlen einer Wahlpflicht - wären dadurch nicht "Ausrutscher" verhinderbar?

Die Wählerschaft in Deutschland ist volatiler als in der Vergangenheit, der Anteil der Stammwähler gesunken und viele Wählerinnen und Wähler treffen ihre Entscheidung erst kurz vor dem Wahltag. Unabhängig davon wer bei der einen oder anderen Wahl davon profitiert, wenn viele Menschen nicht wählen gehen, wirbt DIE LINKE in jedem Wahlkampf dafür, sich so oder so an jeder Wahl zu beteiligen, um die Demokratie zu stärken. Wählen ist ein Bürgerrecht. Ich halte nichts davon, Bürgerinnen und Bürger zu zwingen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen und halte eine Wahlpflicht auch mit Blick auf die Praxis in europäischen Nachbarländern, in denen eine Wahlpflicht gilt, nicht für sinnvoll.

Zum Volksentscheid - Wie steht Ihre Partei zu der Tatsache, dass Verwaltungen sich das Recht durch ihr Handeln, sogar mit grober Absicht herausnehmen negativ über die Gesundheit ihrer Bürger zu bestimmen? Hat Verwaltung in Ihrer Verantwortung eigentlich nicht als Pflicht genau das Gegenteil? Wo greifen hier Menschenrechte?

Exekutive, Legislative und Judikative haben in einem politischen System, das auf Menschenrechten basiert, die Pflicht, gesundheitliche Gefahren für die Bevölkerung abzuwenden. Aus diesem Grund wurde die Betriebsgenehmigung für den BER auch durch höchstrichterliche und nach wie vor geltende Urteile explizit damit verknüpft, dass die innerstädtischen Flughäfen Tempelhof und TXL schließen müssen, damit unter dem Strich deutlich weniger Menschen in Berlin von den gesundheitsgefährdenden Emissionen des Flugverkehrs belastet sind. Aus demselben Grund werden weltweit innerstädtische Flughäfen geschlossen und in Deutschland seit Jahrzehnten keine innerstädtischen Flughäfen mehr genehmigt. Es spricht auch nichts dafür, anzunehmen, dass TXL die zwingend erforderliche neue Betriebsgenehmigung erhalten würde, falls die Bundesregierung und die beiden Landesregierungen von Berlin und Brandenburg gemeinsam eine Kurskorrektur vollziehen und ein Offenhalten von TXL nach einer Eröffnung des BER anstreben würden. Umfassender Lärmschutz lässt sich beim Kutschi – wie jeder Reinickendorfer weiß – ohnehin nicht realisieren. Worüber m.E. in der TXL-Debatte zu wenig gesprochen wurde und wird, ist zudem der GAU eines Flugzeugabsturzes über innerstädtischem Gebiet. Unter dem Gesichtspunkt die Bevölkerung vor gesundheitlichen Gefahren zu schützen, wäre eine zeitnahe Schließung des TXL nach einer Eröffnung des BER folgerichtig, aber der Gesundheitsaspekt hat in der Debatte um den Volksentscheid leider nur eine untergeordnete Rolle gespielt.