Liberalismus ist keine `Wurzel des Sozialismus´

von Andreas Wehr

leider konnte ich an der Diskussionsveranstaltung des Bezirksverbandes Reinickendorf „Für soziale und Freiheitsrechte“ am 22. März 2010 mit der Referentin Petra Pau nicht teilnehmen.

Mit Interesse habe ich den von Jürgen Schimrock verfassten Bericht über diese Veranstaltung in der Ausgabe 4-2010 der Bezirkszeitung „WiR“ gelesen. Darin heißt es u. a.: „Petra Pau kennzeichnet zwar den politischen Liberalismus als eine `Wurzel des Sozialismus´ zieht aber eine klare Trennlinie zur Politik und zum Freiheitsverständnis der FDP, dem eigentlichen inhaltlichen Gegenpol: ‚Die bürgerlich Liberalen wollen im Namen der Freiheit weniger Staat und mehr Individualität. Die libertären Linken wollen namens der Freiheit einen gerechten Staat und mehr Gesellschaft.’“ Neben diesem Bericht ist ein Zitat aus einem Brief von Friedrich Engels an Karl Kautsky abgedruckt. Es lautet: „Der Liberalismus ist die Wurzel des Sozialismus, will man also radikal verfahren, so muss man den Liberalismus kaputtmachen, dann verdorrt der Sozialismus von selbst.“ (Friedrich Engels an Karl Kautsky, Brief vom 5. März 1892, MEW 38, S. 288). Ich nehme daher an, dass sich Petra Pau in der Veranstaltung auf dieses Zitat berufen hat.

Da ich mir nicht vorstellen konnte, dass Friedrich Engels jemals den Liberalismus als „eine Wurzel des Sozialismus“ bezeichnen haben könnte, habe ich mir die Mühe gemacht und diesen Brief von Engels an Kautsky nachgeschlagen. Das erstaunliche Ergebnis dieser kleinen Recherche möchte ich euch nicht vorenthalten.

Engels behandelt in seinem Schreiben zunächst eine ganze Reihe von persönlichen, tagespolitischen und redaktionellen Fragen. Dann kommt er zu politischen Ereignissen in Berlin jener Tage, wo es Proteste und Straßenaufläufe gegeben hatte. Zum Hintergrund: Im Februar 1892 war es im Berliner Zentrum zu Arbeitslosenunruhen gekommen. Die Sozialdemokratie hatte sich von diesen spontanen und teilweise gewaltsamen Protesten distanziert, auch aus Sorge, dass sie nach der langen Zeit der Sozialistengesetze erneut in die Illegalität verbannt werden könnte. Unterstützt wurden diese Proteste aber von den sogenannten „Jungen Wilden“ in der Partei. Engels nennt sie in seinem Brief „Krawaller“. In der Geschichtsschreibung heißt es über die Jungen Wilden: „Bei der Opposition handelte sich um eine anarchoide Gruppierung, 1889-92, die der Verabsolutierung des Parlamentarismus eine ebenso abstrakte völlige Negation aller parlamentarischen Tätigkeit entgegensetzte.“ (Georg Fülberth/Jürgen Harrer, Arbeiterbewegung und SPD, S.56, Darmstadt/Neuwied, 1974)

Die Passage des Engels-Briefes hat nun folgenden Wortlaut:

„Ich glaube nicht, dass Du vorderhand gefährdet bist. Die Berliner Gelüste sind so wackelig und vielseitig, dass keins zur wirklichen Befriedigung kommt – jetzt sind die liberalen Bourgeois plötzlich die bête noire (die Angstgegner, A. W.). Der Liberalismus ist die Wurzel des Sozialismus, will man also radikal verfahren, so muss man den Liberalismus kaputtmachen, dann verdorrt der Sozialismus von selbst. Dies ausgezeichnet schlaue Manöver können wir uns einstweilen mit stiller Heiterkeit ansehen. Sind erst die liberalen Philister wild gemacht, und sie scheinen wirklich in die Wut wider Willen hineingejagt zu werden, dann ist’s auch mit den Schreckschüssen gegen uns vorbei. Abgesehn davon, dass es auch Machthaber in Deutschland gibt, denen dieser Berliner Wind anjenehm sein dürfte, um sich ihm gegenüber wohlfeil populär zu machen und für Partikularismus und Reservatrechte Kapital herauszuschlagen. Als die Berliner Straßenaufläufe anfingen, war ich nicht ohne Besorgnis, es könne sich daraus die so heiß ersehnte Schießerei entwickeln, als aber die Krawaller den jungen Wilhelm anhochten und dieser damit beruhigt war, war alles wieder in Ordnung (…) (Friedrich Engels an Karl Kautsky, Brief vom 5. März 1892, MEW 38, S. 288)

Jede verständige Leserin bzw. Leser kann auf einen Blick erkennen, was Engels mit der Bezeichnung des Liberalismus als „Wurzel des Sozialismus“ gemeint hat. Er gibt damit den Gedankengang der preußischen Aristokraten und Junker wider, die den liberalen Bourgeois als Hauptfeind ausmachen, auch weil der Liberalismus angeblich Ursache des Sozialismus sei. Engels macht sich über „dies ausgezeichnet schlaue Manöver“ lustig und rät dazu, es „mit stiller Heiterkeit anzusehn“.

Auf den damals im Deutschen Reich erneut ausgebrochenen Kampf Aristokratie gegen Bourgeoisie geht Engels auch in einem Brief an Adolph Sorge, ebenfalls vom 5. März 1892, ein. Hier belustigt sich Engels über die Ansichten Kaiser Wilhelm II., dass die Sozialdemokraten Abkömmlinge des Liberalismus seien:

„Zum Glück richtet sich die regis voluntas, die so gern suprema lex würde, heut gegen uns und morgen gegen die Liberalen, und nun hat er gar entdeckt, dass alles Pech von den Liberalen kommt, deren Abkömmlinge wir sind – das haben ihm seine Pfaffen beigebracht.“ (Friedrich Engels an Adolph Sorge, Brief vom 5. März 1892, MEW 38, S. 290)

Das von Petra Pau in der Veranstaltung am 22. März 2010 benutzte und in der Zeitschrift „Wir“ wiedergegebene Zitat ist demnach aus dem Zusammenhang gerissen und dadurch in seinem Sinn grotesk entstellt worden. Den Liberalismus als eine der Wurzeln des Sozialismus zu bezeichnen würde im Übrigen dem gesamten Denken und Werk von Marx und Engels widersprechen, die sich Zeit ihres Lebens im bewussten und ausdrücklichen Widerspruch gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft und zum Liberalismus sahen. Nicht zu verwechseln ist damit die Tatsache, dass sich der Sozialismus natürlich die Errungenschaften der vorangegangenen bürgerlichen Gesellschaftsordnung zunutze machen muss. Im Kommunistischen Manifest heißt es dazu: „Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Proletarier.“ (MEW 4, S. 468)

Über die Bedeutung des Begriffs Liberalismus heißt es in dem von Wolfgang Fritz Haug herausgegebenen Kritischen Wörterbuch des Marxismus: „Der Begriff Liberalismus gehört zum politischen Wortschatz des Bürgertums (…). Der marxistische Diskurs enthält keine Definition dieses Ausdrucks, den er sich historisch auch nicht zu eigen gemacht hat; der marxistische Diskurs ermöglicht indes die Analyse und Kritik dieses Ausdrucks, entsprechend der Reflexion, die Marx und Engels die historische und politische Einordnung der liberalen Demokratie erlaubt hat (vgl. vor allem Manifest, MEW 4, 459ff.). Der Liberalismus darf nicht als abstrakte Haltung, sondern muss als Klassenverhalten aufgefasst werden.“ (Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 4, Stichwort Liberalismus, S.774f., Berlin 1986)

Den libertären Linken ist es natürlich unbenommen, aus der Partei Die Linke eine „moderne, sozialistische Bürgerrechtspartei“ machen zu wollen und dabei auch den Begriff des Liberalismus für sich in Anspruch zu nehmen. Auf Marx und Engels können sie sich dabei allerdings nicht berufen.

Im Übrigen: Dass der Kampf für Freiheitsrechte und der für soziale Rechte untrennbar zusammengehören, ist eine Selbstverständlichkeit und in der sozialistischen Bewegung alles andere als neu. Den vielen Mitgliedern in der Partei Die Linke, die bereits gegen die Notstandsgesetze kämpften oder die sich gegen die grundrechtswidrige Praxis der Berufsverbote engagierten, muss dies heute nicht als neue Erkenntnis präsentiert werden. Dieser permanent notwendige Kampf um Freiheitsrechte hat aber nichts mit einem Bekenntnis zu einem Liberalismus zu tun.