Der Russische Friedhof in Tegel

Reinickendorf historisch

Die Toten sind tot.

Jedenfalls manche

Warum Elisabeth Michaelis auf einem russischen Friedhof liegt und ihre Tochter Eva Pohlke auch Blumen für andere Gräber mitbringt    

Von Christina Matte (Neues Deutschland)

Eva Pohlke geht nicht mehr so oft auf den Friedhof wie früher. Sie müsste mit dem Bus fahren, in die U-Bahn umsteigen, und dann noch ein. Stück zu Fuß gehen - für sie fast- eine Tagesreise. Früher fuhr sie mit dem Rad. Bewehrt mit Gießkanne, Harke, Schere und dem, was man sonst braucht zur Grabpflege, hat sie die Strecke in 20 Minuten bewältigt. Sie hat viele Gräber gepflegt. Fremde Gräber. Jetzt muss sie sich nur noch um eins, um das Grab ihrer Mutter kümmern.

Ihre Mutter, ElisabethMichaelis, ist alt geworden. Geboren 1901, also am Anfang des Jahrhunderts, starb sie erst 1990. Eva Pohlke ist auch nicht mehr jung, sie wird demnächst 79. Es gibt ein Foto, auf dem Eva und Elisabeth nebeneinander stehen: zwei hübsche junge Frauen, wie Schwestern. Da Eva nur 1.57 misst, staunt man, dass Elisabeth noch. einen halben Kopf kleiner ist. Aber Eva mag nicht sagen, sie sei eine kleine Frau gewesen: »Ick sage immer, sie war kurz.« Als Berlinerin hat sie Mutterwitz.

Das Foto muss in einem Garten, an einem warmen, unbeschwerten Tag aufgenommen worden sein. Das heißt, es hat diesen Tag gegeben. Die hübschen Kleider, die sorglos-heiteren Gesichter stehen in seltsamem Widerspruch zu dem Bild, das Eva von ihrer Kindheit und ihrer Mutter zeichnet. Vielleicht mangelt es uns an Phantasie, mit einem Leben, von dem wir wissen,dass es im Ganzen glücklos blieb, schöne Momente zu verbinden. Ohne das Foto hätten wir uns die Frage gar nicht gestellt: War Elisabeth womöglich in ihrem Wesen ein fröhlicher Mensch?

Elisabeth Michaelis liegt auf dem russisch-orthodoxen Friedhof in Berlin-Reinickendorf begraben: Der Friedhof, den Emigranten anlegten, ist über hundert Jahre alt. So alt sind auch die meisten Bäume, die die schmalen Wege säumen und die kleine Basilika mit den. kobaltblauen Zwiebeln beschützend in die Mitte nehmen. Es soll russische Erde sein, in der die Kastanien und Eichen gedeihen. Jetzt, im November, sind sie kahl. Wenn das Laub vermodert ist, wird es wieder zu russischer Erde werden - Heimaterde für die Toten, wenn schon nicht für die Lebenden.

Noch bildet das Laub einen dicken Teppich. Morgens, wenn der Frost die letzten Kämpfe gegen die Sonne verliert, ist es glatt wie Schmierseife, und Eva Pohlke geht vorsichtig, damit sie nicht ausrutscht und hinschlägt. Zwei Mal im Jahr kommt sie immer noch her, um ihrer Mutter Blumen zu bringen. Doch zunächst legt sie weiße Rosen auf einigen anderen Gräbern nieder. Eva Pohlke legt knospende Rosen auf die Gräber junger Männer, die im Kampf um Berlin fielen: Zwei unbekannte Rotarmisten ruhen neben M. Matjuchin, N. Djakow, A. Satschkow, A. Gjurikow, W Gusatschkin und E. Stepanow. Dann legt sie Rosen auf ein Grab, das sich am Rande des Friedhofs befindet. Es ist das Grab der Fremdarbeiter P. Opasstinstij, T. Romanow, R. Radschinskij, N. Fill, A. Timptschuk, 1. Woloschko, N. Karownize, I. Mayer, S. Bobritsch, A. Barantschuk. An zwei weiteren Grabstätten deponiert Eva Pohlke Rosen, an den Gräber von Ostarbeiterinnen und ihrer in Deutschlande geborenen und bereits nach wenigen Tagen oder Wochen verstorbenen Kinder: S. Budjennaja, L. Poswanow, R. Fedorow, P. Nikolajew, W. Rschewskij, W. Kriworutschka, A. Tschechowskij, N. Stschebrina, S. Amossenko, G. Popowitsch, W. Njeromjastschij, A. Klimenko, G. Powelko, L. Rybakowa - der Anstand gebietet es, die Toten namentlich zu nennen.

Dies sind die Gräber, die Eva Pohlke und Elisabeth Michaelis von Anfang der 70er bis Ende der 80er Jahre pflegten. Niemand hatte sie darum gebeten. Keine staatliche Stelle, keine Partei hatte sich um die`. Gräber gekümmert. Dabei hatte Reinickendorf im Krieg zu den Rüstungszentralen, gehört, die bekanntlich vorzugsweise mit, Fremdarbeitern „beliefert« wurden – 31.400 waren 1943. in diesem Stadtbezirk registriert, damit lag Reinickendorf nach Spandau an zweiter Stelle in Berlin. Rheinmetall-Borsig; die Firma Teves, die Deutschen Waffen- und Manitionsfabriken, die Argus-Motorenwerke, Alkett, die Bergmann AG Wilhelmsruh, die Zahnradfabrik Friedrichshafen, die Wittenauer Maschinenfabrik, um nur einige zu nennen, beschäftigten Fremdarbeiter. Sie kamen u.a. aus Italien, Frankreich, Belgien, Holland, Polen, Tschechien und aus der Sowjetunion. Sie wohnten in Barackenlagern, oft ohne ausreichende Heizung und sanitäre Einrichtungen. Viele starben an Unterernährung, Seuchen oder Epidemien. »Muttern fand«, sagt Eva Pohlke, »dass wir es ihnen schuldig sind, wenigstens ihre Gräber zu pflegen.«

Ohne das Foto wüssten wir von Elisabeth nur dies: Die erste Ehe scheiterte. Die zweite Ehe begann besser: Fritz war in der KPD, durch ihn kamen Elisabeth und Eva damals zum Sportverein »Fichte«. Anfang der 30er Jahre wurde Fritz wie so viele arbeitslos, 1933, nach der Machtergreifung der Nazis, streckte ihn ein Schlag­anfall nieder. Er war linksseitig gelähmt, Elisabeth ging jeden Tag ins Krankenhaus, um ihn zu pflegen. Eines Tages blieb sie weg, man hatte sie abgeholt und mit anderen Genossen zunächst in das SA-Gefängnis in der Papestraße gesteckt. Eva war zwölf und allein zu Haus, als die SA-Leute wiederkamen und nach einer Fahne fragten. Eva wusste, es war eine rote Fahne, die sie gern gefunden hätten, doch sie wusste nicht, wo sie steckte. Ebenso wenig wusste sie, dass Elisabeth noch im März 1933 als Bezirksverordnete der KPD gewählt worden war. Bei dieser letzten Kommunalwahl während des Nationalzialismus, bei der die NSDAP in Wittenau und Borsigwalde bereits 4570 Stimmen für sich rekrutierte, wählten noch 3590 Reinickendorfer die Kommunisten, während für die Sozialdemokraten 2920 votierten. Wohl auch deshalb wurde Elisabeth in die Papestraße gebracht,, später in die Barnimstraße, ins dortige Frauengefängnis. Als sie Monate später freikam, war Fritz im Siechenhaus untergebracht und Eva bei einem SA-Mann in Pflege. Sie hatten die Wohnung verloren. Wenigstens hatte der Reinickendorfer Fuhrunternehmer Gustav Gent die Möbel gerettet und untergestellt; Elisabeth soll gesagt haben, dass nicht ein Stecknadel fehlte.

Es war schwer, eine neue Wohnung zu finden. Zwei Zimmer, Parterre,' Hinterhaus. Eine von jenen Wohnungen, die ihre Bewohner totschlägt: Bis Fritz im Jahre '36 als Techniker bei Borsig anfing, er­nährte Elisabeth die Familie. »Sie war ein bisschen hart«, glaubt Eva, die sich um vieles kümmern musste, was Elisabeth nicht schaffte, und die zuweilen ein Streicheln vermisste. Sie hat es ihr nie vorgeworfen. Sie hat Elisabeth geachtet. Kurz vor Kriegsende brachte Eva eine Jüdin zu ihrer Mutter, die Elisabeth versteckte. Und später, als der Krieg vorbei war, richtete Elisabeth mit der KPD-Gruppe »Stadtpark« in einer Fremdarbeiterbaracke für die Kinder, von denen nun viele ohne Vater aufwachsen mussten, einen Kindergarten ein. Bei den Arbeiten traf sie Gernot, der nach seinen Eltern suchte; er sollte ihr ein Sohn werden. Als der Kindergarten schon im-Oktober '45 eröffnete, wurde sie dessen Leiterin - vielleicht wollte sie so gutmachen, was sie bei ihrer Tochter versäumte.

An diesem Novembermorgen sind Eva Pohlkes weiße Rosen die einzigen Blumen auf den Gräbern. Vor Jahren hat sie mit ihrer Mutter einen Brief nach Moskau geschrieben, um die Familien der Toten zu finden - bei den Allerweltsnamen und der Größe des Landes unmöglich. Jetzt stehe ich mit Eva Pohlke vor den ordentlich-sauberen, aber kühl-nüchternen Gräbern und denke, dass sich für den Schreiber alle Geschichten fortsetzen. Die Toten sind tot, keiner bringt sie zurück. Doch Menschen haben ein Gedächtnis, und sind wir nicht erst dann aus der Welt, wenn sich keiner mehr an uns erinnert?

Als Elisabeth Michaelis fand, dass man gerade diese Toten nicht so schnell vergessen dürfe, war ihre Tochter mit ihr einer Meinung. Sie bepflanzten die Gräber mit Petunien, Pelargonien und Studenten. Da sie nicht knauserten und das ins Geld ging, ließen sie sich zu Geburtstagen statt Pralinen oder Büchern kleine »Pflegezuschüsse« schenken und nahmen die VVN in die Pflicht, die diese und jene Mark zustreckte. Im Herbst und im Frühjahr harkten sie Laub, in langen, heißen, trockenen Sommern kamen sie fast jeden Tag her, um die Pflanzen abzuspritzen, in Winter nahmen sie sie mit heim - kurz, all die Jahre, in denen die Gräber unter ihrer Obhut standen, waren sie eine Augenweide. Selbst in der Zeit, als sich Eva Pohlke zurückzog, weil ihr Mann, ein Beamter, ihretwegen Ärger bekam und ihre Mutter allein weitermachte, sahen »ihre Gräber« aus; als wären sie der Augapfel trauernder Familien.

Jetzt,nun ja, es ist, wie es ist. Vor einem Jahr ließen der »Verein der Freunde Russlands« und der Senat die Gräber neu herrichten: keine Blumen mehr, Granit. Eva Pohlke will nicht meckern. Wenn eine Berlinerin sagt, sie will nicht meckern, sagt sie damit, dass sie es sich grad so verkneift. Auf den Gedenksteinen, die für die Fremdarbeiter errichtet wurden, steht: »Hier ruhen Opfer des Krieges«. Es gibt keine Berlinerin, die letztlich aufs Meckern verzichtet. Außerdem ist Eva Pohlke jedes Mal, wenn sie herkommt, wieder wütend:. »Was soll das heißen, 'Opfer des Krieges'? Das sagt alles und überhaupt nichts. Und nicht mal das kann man richtig lesen!«

Elisabeth hatte kein leichtes Leben. Sie hat es sich nicht ausgesucht. Niemand sucht sich so ein Leben aus, wenn er ein anderes haben könnte. Ich stelle mir vor, was gewesen wäre, hätte sie die Sicherheit einer begüterten Herkunft genossen: Hätte sie ein soziales Gewissen entwickelt? Was, wenn die Nazis '33 nicht die Macht ergriffen hätten: Hätte sie Eva öfter gestreichelt? Was, wenn die deutsche Industrie nicht lustvoll hochgerüstet hätte: Hätte sie mit Fritz bei »Fichte« an FKK-Stränden gelegen? Und hätte man ihr nach der Befreiung die Achtung entgegengebracht, die selbstverständlich gewesen wäre: Wäre sie eine liebe, nette, zufriedene Kindergärtnerin geblieben?

Wir wissen nicht viel von Elisabeth. Nur die paar Eckdaten ihres Lebens, an die Eva sich erinnert. Noch vor Ende der 40er Jahre setzte man ihr den Stuhl vor die Tür. Der SPD-Stadtrat befand, als Kommunistin und SED-Mitglied sei sie politisch unzuverlässig und dürfe keine Kinder erziehen. Sie ging in den Osten, zur Knorr-Bremse. Noch einmal richtete sie dort einen Kindergarten ein, doch 1953 wurden alte Westberliner aus den Ostbetrieben entlassen. Sie verstand die Welt nicht mehr. .Sie und Fritz hatten sich getrennt.

Sie fing bei der Reichsbahn an, ganz unten, als Lampenputzerin. Als- sie in die Rente ging, war sie Lohnbuchhalterin. Ihr Land hat sie nie geliebt. Es hat Kommunisten nie geliebt. Obwohl sie, anders als ihre Genossen, die im Osten Macht ausübten, all die Jahre unschuldig blieben.

Dicht bei den Soldatengräbern befindet sich ihr schlichtes Grab. Es war ihr Wunsch, dass man sie hier beisetzt, sie wollte »bei ihren Jungs liegen«. Ganz am Ende ihres Lebens muss ihr klar gewesen sein, dass Kriegsende und Nachkriegszeit ihre schönsten Jahre waren - Aufatmen, Hoffnung, Aufbruchsstimmung.

Eva Pohlke hat einen Strauß roter Rosen für sie gekauft. Er verblasst auf dem Laubteppich. Auch Gernot wird einen Strauß bringen, doch mit den Freunden der VVN, der SEW und des DFD, die hier vor Zeiten zwei mal jährlich, am 8. Mai und am 9. November, die Toten ehrten, ist nicht mehr zu rechnen. Wer von ihnen noch lebt, ist alt. Etwa so alt wie Eva Pohlke, und bald wird sich keiner mehr erinnern. Keiner wird sich mehr erinnern, dass es Menschen gab, die sich in der Zeit der Barbarei verweigerten. Schon heute behaupten Historiker, in Deutschland habe es Widerstand seit '35 nicht mehr gegeben - die Leistung der Antifaschisten wird gleichsam aus der Geschichte gestri­chen. Eva Pohlke weiß es besser. Sie weiß, dass sich in den Rüstungsbetrieben bis 1941 die Zahl der Widerstandszellen erhöhte - auf erstaunliche 89. Zur Widerstandsgruppe bei Borsig in Tegel gehörten etwa 40 Kollegen. Bei den DWM umfasste die Gruppe ca. 60 Mitglieder. Die Gruppe bei Teves war im Mai '44 rund 40 Mann stark. Auch bei Argus, Alkett, der Bergmann AG, der Zahnradfabrik Friedrichshafen, bei Lindner, Stolzenberg und Schoening sabotierten Widerstandsgruppen die Rüstung ... Noch könnte Eva Pohlke erzählen. Die Wahrheit ist, es will keiner mehr wissen.

Es gibt dieses andere, spätere Foto: Elisabeth, eine alte Frau mit Schnürschuhen, warmem Mantel und Mütze, mit Freundinnen bei einer Mahnwache für die Opfer des Faschismus. Vier Frauen mit Fackeln und ein Plakat, das niemand zur Kenntnis nimmt, im Hintergrund »Leiser« und »Wienerwald«. Elisabeth lächelt, ein trauriges Bild.

Der Russische Friedhof

Fotos: Lutz Dühr