Stellungnahme der Bezirksvorstands der PDS Reinickendorf
zur Studie von Rolf Reißig
„Mitregieren in Berlin. Die PDS auf dem Prüfstand“

(Beschluss des Bezirksvorstands, 7.3.05)

Der Bezirksvorstand Reinickendorf hat sich mit den Ergebnissen der Studie zur Regierungs­beteili­gung der PDS im Auftrag der RLS beschäftigt. Aus unserer Sicht bietet die Studie eine Fülle von Fak­ten und Denkanstößen, die sowohl grundsätzlichen Befürwortern, als auch Kritikern und Gegnern An­sätze für weiterführende Diskussionen und Schlussfolgerungen für die weitere parlamentarische Aus­richtung der politischen Arbeit geben können und sollten.

Wir möchten auf drei, uns als Bezirksverband im Westteil Berlins besonders interessierende, Punkte eingehen, Kritik üben und Vorschläge unterbreiten, weil dies u. a. die Punkte sind, zu denen sich un­ser Bezirksverband schon in der Vergangenheit mehrfach geäußert hatte.


In der Studie heißt es:

7. Linkssozialistische Politik in Regierungsverantwortung erfordert Dialog und Verstän­digung mit den sozialen Bewegungen und Gewerkschaften.

Dies ist für eine linkssozialistische Partei um so dringender, als sich mit ihrer Beteiligung an einer Koalitionsregierung die Funktion und die Verantwortung zwischen ihr und den sozialen Bewegungen sowie Gewerkschaften weiter ausdifferenzieren. Eine linkssozialistische Re­gier­ungspartei ist nicht verpflichtet, eine außerparlamentarische Bewegung zum Sturz der eigen­en Regierung zu unterstützen. Aber ohne offenen und öffentlichen Dialog mit den verschie­denen sozialen Bewegungen und Gewerkschaften, ohne gesellschaftliche Mobilisierungs­strategien ist ein Politikwechsel nicht zu bewerkstelligen und kann eine linkssozialistische Partei auf Dauer nicht überleben.

Die Regierungsbeteiligung schafft zugleich neue Möglichkeiten, um die demokratische Linke sozial und kulturell tiefer in der Gesellschaft zu verankern und vor allem um die zivilgesell­schaftlichen Akteure und das Bürgerengagement zu stärken. Das erforderte jedoch die Erkundung neuer, auch institutioneller Formen.

Darüber hinaus steht eine linkssozialistische Partei vor der Aufgabe, die Diskussion mit den VertreterInnen der Linken in der Sozialdemokratie und den Grünen sowie von Linkspartei-In­itiativen auf nationaler und internationaler Ebene zu organisieren. Ein solcher Diskurs könn­te dazu beitragen, sich u. .a. über Möglichkeiten alternativer Politikgestaltung und trans­formatorischer Projekte zu verständigen. (Punkt 4.l., Seite 52)

8. Linkssozialistische Regierungsbeteiligung verändert das Beziehungsgeflecht zwischen den Akteuren der Partei – vor allem zwischen den Ministern (Senatoren), der Fraktion und dem Landesverband.

...Für den Landesverband ergibt sich daraus zweierlei: Er wird zum einen die Regierungsbe­teiligung solidarisch begleiten, aktiv unterstützen und auch kontrollieren müssen. Seine Rolle ist jedoch nicht auf die einer Assistenz des Regierungshandelns und Absicherung der Re­gier­ungspolitik zu reduzieren. Er wird im Gegenteil gefordert, die Fähigkeit zur strategischen Of­fensive zu bewahren bzw. zurück zu gewinnen (geistige Offensive, Initiativen zur Projekt­for­mulierung, Verbindungen zu den sozialen Bewegungen, Mobilisierung der Mitgliedschaft). Zum anderen ist gerade der Landesverband berufen, eine „authentische“ (aber realistische) linkssozialistische Politik zu entwickeln und öffentlich zu diskutieren, da Regierungs- und Ko­alitionspolitik anderen Mechanismen unterliegt und nicht zuletzt durch komplizierte parla­men­tarische Aushandlungsverfahren in aller Regel Kompromisscharakter trägt. Dies ist nicht als Plädoyer für eine Doppelstrategie zu deuten, aber linkssozialistische Politik in unter­schied­lichen Handlungsräumen nimmt unterschiedliche Formen an. (Punkt 4.8., Seite 53)


  • Die Frage nach der Kampagne- und Mobilisierungsfähigkeit der PDS im Kontext der Re­gierungsbeteiligung scheint schwieriger zu beantworten; Untersuchungen dazu liegen nicht vor. Einige Bedingungen sind ungünstiger geworden: Regierungsarbeit – noch dazu in einer Situation der Haushaltsnotlage – ist mehr denn je das „Bohren dicker Bretter“. In der Landespolitik geht es zudem selten um so genannte „Haupt- oder Staatsaktionen“, wo jeder mitreden kann, sondern vielmehr um oft recht sperrige, detailgetreue Problemlö­sungsangebote, Gesetzesinitiativen, Regeln, deren politische Tragweite und Bezüge zu Leitideen oder gesellschaftlichen Entwicklungstrends sich nicht immer oder sofort er­schlie­ßen. Die Ergebnisse sind meist Kompromisse mit Für und Wider. Das kann statt zur zunehmenden Mobilisierung bei größeren Teilen der PDS und ihrem Umfeld eher zu Rückzug führen. Das Bild, dass die einen „spielen“ und die anderen „zuschauen“, macht in Führungsgremien der PDS Berlin die Runde. Hier hat die PDS offensichtlich an Ter­rain verloren. Inwiefern hier der Landesvorstand mit welchen Mitteln und mit welchen Effekten gegensteuert, konnte in diesem Kontext nicht genauer erkundet werden. Auf jeden Fall ist das politische Engagement der Promotoren, der Aktivisten im Landesverband und in der Fraktion beachtlich. Vielleicht spiegelt sich in einem tendenziellen Rückgang der Mobilisierungsfähigkeit auch nur ein Trend der letzten Jahre wider, wie er in der ge­samten PDS zu beobachten war. Offensichtlich bedarf es neuer Überlegungen und Kon­zepte, die Mitglieder der PDS wieder stärker in die Arbeit des Landesverbandes einzube­ziehen.“ (Punkt 3.5., Seite 44)

Soweit die Formulierungen des Autoren.


Für den Bezirksvorstand Reinickendorf leiten sich folgende Schlüsse ab:

  1. Um Regierungshandeln, auch der Genossinnen und Genossen der eigenen Partei, kritisch-solidarisch zu begleiten und wirksam kontrollieren zu können, bedarf es des ausgespro­chenen Willens, dies zu tun, des gebotenen „Abstandes“ des LV zu realpolitischem Handeln der Fraktion bzw. SenatorInnen und entsprechender konzeptioneller Ausrichtung des LV, bedarf es geeigneter Maßstäbe für erfolgreiches (oder weniger erfolgreiches) Re­gierungshandeln.

  2. In der PDS Berlin ist weder im Vorfeld, noch im Verlauf der Regierungsbeteiligung in den vergangenen drei Jahre eine politische Strategie entwickelt worden, die solche nachhaltigen gesellschaftspolitischen Ziele formuliert, welche nachvollziehbar machen, dass die Partei in der Lage ist, mittel- und langfristig zur Lösung der Probleme der Stadt beizutragen. Mit „Berlin beginnt“ wurde seinerzeit ein Versuch seitens des Landesvorsitzenden unternom­men, erste Leitlinien für eine solche Strategie zu formulieren, der leider nie fortgeführt wurde. Wird eine solche, von der Gesamtheit der Berliner PDS getragene politische Per­spektive und Strategie im Vorfeld der nächsten Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus nicht erarbeitet, ist eine ggf. mögliche Fortsetzung der Regierungskoalition mit der SPD gefährdet bzw. aus inhaltlicher Sicht zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht anzustreben.

  3. Unverzichtbar für eine nachhaltige „geistige Offensive, Initiativen zur Projektformulierung, Verbindungen zu den sozialen Bewegungen, Mobilisierung der Mitgliedschaft“ des Lan­des­verbandes Berlin ist eine zeitnahe Trennung der Funktionen von Partei- und Frak­tions­vorsitz. Um eigenständige, für die Wählerschaft unterscheidbare politische Ziele zu formulieren und politisch umzusetzen, bedarf es erstens eines von der Fraktion „unabhän­gigen“ Landesvorstandes, der zweitens eine für die Parteimitglieder nachvollziehbare Kon­troll­funktion auch tatsächlich ausübt.

  4. Die Initiative des LV, projektorientierte Arbeitsgruppen ins Leben zu rufen, war richtig, ist aber bis auf leider wenige Ausnahmen nicht konsequent verfolgt worden, so wie es der Landesparteitag auf unseren Antrag hin beschlossen hatte. Dies hat sicherlich personelle, aber auch konzeptionelle Gründe. Die Vorgabe des Landesgeschäftsführers (als Diskus­sions­beitrag in der „Projektgruppe Bildung“), dass das PDS-Mitglied sich quasi als Regierungsmitglied betrachten und entsprechend denken und handeln müsse, widersprach u. E. eklatant den Intentionen, die mit den Projektgruppen verbunden waren. Die Studie be­legt dies ebenfalls. Der zukünftige Umgang der PDS Berlin mit Gewerkschaften, Sozi­alverbänden und anderen darf sich nicht auf die Interpretation und Kommunikation von Regierungshandeln mit all seinen notwendigen Kompromissen reduzieren, sondern muss sich auf die Entwicklung gesamtgesellschaftlicher Politikansätze konzentrieren.

  5. Der BV Reinickendorf schlägt vor, Regierungshandeln für den gesamten Landesverband noch transparenter zu machen und inhaltliche Diskussionen (z. B. zu Gesetzentwürfen) darüber auf allen Ebenen zeitnah zu ermöglichen. Insbesondere die mitgliederschwachen und dementsprechend ressourcenreduzierten Westbezirke sind im Interesse ihrer kommu­nalpolitischen Verankerung auf diese Einbeziehung in die Meinungsbildung existenziell angewiesen.

  6. Ein positives Beispiel gab und gibt der Genosse Nelken mit seiner Informationspolitik zum geplanten Straßenausbaubeitragsgesetz, in dem es ihm gelungen ist, durch entsprechende Vorarbeiten im frühen Vorfeld der parlamentarischen Ebene die Meinungsbildung in der PDS Berlin zu befördern. Wir halten diese Art und Weise einer konstruktiven und kri­tisch­en Zusammenarbeit innerhalb der Partei für vorbildlich. Andere Gesetzesvorhaben (z. B. das jetzt auch in der Debatte stehende Kindertagesbetreuungsreformgesetz) werden oft erst bekannt, wenn die entscheidenden politischen Weichen schon gestellt sind und eine Mitsprache kaum mehr möglich ist. Der „Westen“ wird noch all zu oft nicht mitgedacht. So kann und sollte sichergestellt werden, dass parlamentarische Initiativen der PDS Berlin tatsächlich auf allen Ebenen der Partei durch rechtzeitige Information und Einbeziehung mitgetragen werden.

  7. Dass die Aussage „Das Bild, dass die einen 'spielen' und die anderen 'zuschauen', macht in Füh­rungsgremien der PDS Berlin die Runde“ in Führungsgremien die Runde macht ist, für uns in Reinickendorf eine Sichtweise, die wir im Bezirksvorstand so nicht haben. Allerdings beschleicht uns angesichts der geringen Resonanz, die wir auf unsere Vorschläge erhalten, manchmal das Ge­fühl, dass man uns nicht mitspielen lassen will – weil wir (nach unserem Eindruck) in die Schub­lade „Salonlinke“ gesteckt werden. Den vom Autor vermuteten Mangel an Mobilisierungsfähig­keit führen wir ganz wesentlich auf den bei uns im Bezirksvorstand herrschenden Eindruck des „nicht-mitspielen-dürfens“ zurück. Diese Gefühlslagen sind nach unserer festen Überzeugung auch nur durch guten und regelmäßi­gen Informationsfluss zu überwinden (siehe Pkt 6.). Newsletter und „Berichte aus dem Landesvorstand“ sind für e-mail-Abonnenten sicher ein hervorragendes Mittel, den Informationsfluss zu steigern, doch sollten die Geschäftsstellenleiter systematisch angehalten werden, eingehende Information auch an die Mitglieder zu verteilen. Wir haben des öfteren den Ausruf „das kenne ich nicht“ gehört, wenn wir Genossen auf Papiere angesprochen haben. So z.B. unsere Offene Antwort auf den Offenen Brief der BO Hessenwinkel zur Flug­hafenproblematik.

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