Stellungnahme des Bezirksvorstandes der PDS Reinickendorf zur Halbzeitbilanz in Regierungsverantwortung

Mit der Übernahme von Regierungsverantwortung in Berlin durch die PDS und dem Scheitern an der 5%-Klausel bei der letzten Bundestagswahl ging gleichzeitig ein Paradigmenwechsel der Politikziele der PDS einher bzw. voran, der von Teilen der Partei schon lange gefordert wurde und nun vollzogen werden konnte. Durch Übernahme von Regierungsverantwortung in Berlin durch die PDS sollte der Nachweis der »Politikfähigkeit« erbracht werden, um so auch auf Bundesebene koalitionsfähig werden zu können.

Dieser Ansatz ist aus unserer Sicht völlig gescheitert, was an vier Daten erkennbar wird:

  • Die Zustimmung der Wählerinnen und Wähler hat sich in Berlin (von ehemals über 22 %) nahezu halbiert und liegt bundesweit meist unter 5 % (derzeit 4 %)

  • Es gibt nach wie vor mehr Austritte als Eintritte. Durch Änderung der Politikziele konnten also keine neuen Wählerschichten angesprochen, wohl aber bisherige verärgert werden.

  • Das als vordringlich erachtete Ziel, eine stärkere Verankerung der Partei in den alten Bundesländern zu erreichen, um so das langfristige Überleben zu sichern, konnte nicht erreicht werden.

  • Die Partei ist durch den Paradigmenwechsel auch in der veröffentlichten Meinung nicht attraktiver geworden, wir kommen praktisch in den bundesrepublikanischen Medien nicht mehr vor.
    Den Grund für dieses Scheitern sieht der BV Reinickendorf auch und wesentlich im Regierungshandeln in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern.

Die Berliner Wahlkampfaussagen, speziell dabei:

  • soziale Gerechtigkeit (derzeit nur noch »soziale Balance«) ist und bleibt die Richtschnur unseres Handelns

  • klare Priorität im Bereich der Bildungspolitik (keine Kürzungen, wir legen noch drauf – Gregor Gysi im Wahlkampf) haben bei der Berliner Bevölkerung und vor allem bei denen, die die PDS erstmalig wählten, Erwartungen geweckt, die angesichts der dann ergriffenen und durch uns mitgetragenen Sparmaßnahmen (Kürzungen im sozialen Bereich)
    -  Aufhebung der Lernmittelfreiheit
    -  Schwerbehindertentransport mit Telebus
    -  Kürzung der Mittel für Jugendprojekte
    -  Kitagebührenerhöhung
    -  Kürzungen im Hochschul- und Bildungsbereich
    -  Erhöhung der Wassergebühren wegen gesetzlicher Absicherung der erhöhten Kapitalrendite von privaten Eignern der Berliner Wasserbetriebe bei gleichzeitigem Gewinnverzichts des Landes
    -  Kürzung der Pflegegeldzuschüsse
    -  Streichung des Zuschusses von 17 Mio. EUR für das Sozialticket
    bitter enttäuscht wurden.

Außerdem sind wir nach wie vor der Meinung, dass der Austritt aus der Tarifgemeinschaft der größte und wahrscheinlich auch nicht mehr gut zu machende politische Fehler war. Eine Partei , die bewusst auch in ihrem Programm die Flächentarifverträge verteidigt, hat mit dieser Entscheidung nicht an politischer Akzeptanz gewonnen, sondern nur an Glaubwürdigkeit verloren.

Die gebetsmühlenhafte Wiederholung der Thesen: »Es gibt keine Alternativen zu diesen Entscheidungen« und »Ohne unser Mitwirken wäre es noch schlimmer« sind und bleiben eine untaugliche Verteidigung des sozial unausgewogenen Regierungshandelns in Berlin unter Mitwirkung der Sozialisten.
Auf diese soziale Schieflage haben wir Reinickendorfer in Hintergrundgesprächen mit Mitgliedern des LV und der Fraktion mehrfach hingewiesen – ohne Erfolg.
Auch unsere Forderung, dass nun endlich Richtlinien für den Verbleib oder den Ausstieg aus der Koalition erarbeitet und benannt werden müssen, stieß auf taube Ohren.

Selbstverständlich begrüßen auch wir die Erarbeitung einer Halbzeitbilanz, glauben aber nicht, dass die vorgelegte Bilanz ausreichend ist, den vorhandenen Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürgern zu kompensieren.

Die Fragen »War es damals richtig« und »Ist es heute noch richtig, in der Koalition zu sein«, werden nicht behandelt bzw. durch die ganze Herangehensweise der Bilanzierung bejaht.
Wenn die stellvertretende Landesvorsitzende der Berliner SPD, Frau Fugmann-Heesing behauptet, dass der Gang nach Karlsruhe bedeutet, dass die Privatisierung weiter und noch verstärkter vorangetrieben werden muss (jetzt aber per Verfassungsgerichtsbeschluss), sollte auch das bilanziert werden, zumal unser Parteiprogramm klare Aussagen zu Privatisierungen enthält!
Bilanziert wird auch nicht eine der Kernaussagen, nämlich »Berlins Finanzen zu sanieren ist die Schlüsselaufgabe der Legislaturperiode, deshalb streben wir an, die Neuverschuldung des Landes bis zum Ende des Jahrzehnts auf null zu senken.«

Gibt es überhaupt noch Chancen zu einer Haushaltskonsolidierung vor dem Hintergrund der Behauptung von nicht wenigen Fachleuten, dass die Verschuldung Berlins bereits im dreistelligen Milliardenbereich liegt (einschließlich der Schattenhaushalte). War oder ist vor diesem Hintergrund der versprochene Politikwechsel noch möglich? Wir glauben: Nein!

Weiter lesen wir in der Bilanz unter »Der Bankenskandal«: »Es ist das bundesdeutsche Wirtschaftsrecht, das wenig Handhabe gegen die Schuldigen in der Bankenmisere bietet. Es hofiert die Hasardeure des Kapitalismus und schützt deren Verlierer kaum«.

Jedoch kein Wort darüber liest man, dass wir dies ändern wollen – als Sozialisten sogar ändern müssen. Wir sehen darin ein weiteres »Dokument des Pragmatismus«, das wiederum nicht zum versprochenen Politikwechsel passt.

Wenn zur verlorenen Bundestagswahl lediglich erklärt wird – auch die Berliner PDS trägt Verantwortung für die Niederlage bei der Bundestagswahl 2002 – ist das sachlich wohl richtig, aber nicht ausreichend. Die Bilanz enthält keine Bewertung, warum die vom Berliner Landesvorstand ausgehende strategische Ausrichtung »Stoiber verhindern - Schröder stützen« nicht den erhofften Wahlerfolg brachte.

Wenn also resümiert wird, dass Defizite zwar politischer Natur sind, dies aber dann lediglich auf die Kommunikation und den Umgang miteinander reduziert wird, geht das unseres Erachtens am Kern des Problems vorbei. Auch deshalb hätten wir es ausdrücklich begrüßt , dass die Fragen der Genossin Ellen Brombacher, nämlich die Auswirkungen der Koalitionspolitik auf den innerparteilichen Zustand der Berliner PDS zu diskutieren, begrüßt worden wären. Ja, wir gehen sogar noch einen Schritt weiter und fragen: Warum hat man nicht versucht, einen Fragekatalog zu formulieren, in dem auch die Mitgliedschaft die Möglichkeit gehabt hätte, ihre Meinung zur aktuellen Politik in Regierungsverantwortung zu sagen.

Wir in Reinickendorf haben dies getan und Fragen wie z.B.

  • Wie schätzt du die Ergebnisse des Wirkens der PDS in der rot-roten Koalition in Berlin ein?

  • Was kritisierst du am meisten?

  • Welche Konsequenzen sollte die PDS aus dieser Bilanz ziehen?

  • Hältst du ein Volksbegehren zur Auflösung des Abgeordnetenhauses für gerechtfertigt?

gestellt. Zusammengefasstes Ergebnis dieser Befragung war, dass die Anwesenden (auch einige Sympathisanten) mit großer Mehrheit die Regierungsbeteiligung von kritisch bis enttäuschend einstuften. Die Frage zu den Konsequenzen wurde ebenfalls mit großer Mehrheit mit »aus der Koalition aussteigen« beantwortet. Die Frage des Volksbegehrens jedoch wurde mit knapper Mehrheit abgelehnt, was übrigens auch mehrheitlich die Meinung des Bezirksvorstands ist.

Unsere Forderungen können wie folgt zusammengefasst werden:

  1. Mehr Staatsanwälte für die Untersuchung des Bankenskandals und wenn in einem Jahr keine wirkliche Aufklärung erfolgt ist – Ende der Koalition;

  2. Wenn keine Zustimmung der SPD zur Rückabwicklung bzw. zum Stopp der Privatisierung der Wasserbetriebe, Bewag, Kindergärten erfolgt – Ende der Koalition;

  3. Wenn keine Zustimmung der SPD zu einer Volksgesetzgebung mit niedrigen Schwellen und keine Ausnahmen der Zulässigkeit, wenn keine Gesetzesinitiative mit der SPD möglich ist – Ende der Koalition.