Positionspapier des Bezirksvorstandes der PDS Reinickendorf

Offener Brief an den Landesvorstand Berlin, die Mitglieder des Abgeordnetenhauses der PDS Berlin und die Berliner Bezirksverbände mit der Bitte um solidarische Stellungnahme

  1. Der Bezirksvorstand steht nach wie vor zu der auch von ihm befürworteten Entscheidung der PDS Berlin, mit der Berliner SPD eine Koalition einzugehen. Trotz der inzwischen erhaltenen Informationen auf der Gesamtmitgliederversammlung der Westberliner Bezirksverbände und der Landeskonferenz der PDS sind noch Zweifel an einigen Senatsentscheidungen vorhanden und wir möchten unsere Sorgen aussprechen.

  2. Die Entscheidung des Berliner Senats zur Risikoabschirmung für die Immobiliengeschäfte der BGB wird innerhalb des Bezirksvorstandes, anderen Teilen und Mitgliedern der PDS und in ihrem politischen Umfeld sehr kritisch bewertet. Dieser Umstand ist nur ein Beleg dafür, dass diese Entscheidung in der Stadt als nicht transparent genug angesehen wird. Diese Situation ist geeignet, den auch von uns angestrebten Erfolg der rot-roten Koalition zu gefährden.

  3. Die Senatsentscheidung muss medial besser dargestellt werden. Die durch den Senat beschlossene monetäre Umverteilung von unten nach oben sollte die PDS ehrlich beim Namen nennen. Wenn die Entscheidung, wie von der Fraktionsspitze dargestellt, die „bessere“ von zwei schlechten Alternativen war, muss und kann sie im unmittelbaren Zusammenhang mit der kapitalorientierten Politik der großen Koalition diskutiert werden. Wir empfehlen, zum geeigneten Zeitpunkt eine speziell zu diesem Thema leicht verständliche Broschüre zu erstellen, die möglichst schon im Wahlkampf zu nutzen ist.

  4. Der Bezirksvorstand vermisst eine systemkritische Analyse von spekulativen Geldanlageformen in Wohnimmobilien. Das Argument der außergewöhnlich lange garantierten Zinshöhe greift zu kurz und lässt die grundsätzliche Problematik der Kapitalisierung von Grundbedürfnissen des Menschen völlig außer Acht. Eine Problemlösung der vorliegenden Qualität wäre auch von den bürgerlichen Parteien zu erwarten gewesen.

  5. Immer wiederkehrenden kritischen Argumenten von kapitalismuskritischen Teilen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und globalisierungskritischen Bewegungen darf nicht nur mit dem Appell an das Vertrauen, sondern muss insbesondere auch mit sachlicher und solidarischer Auseinandersetzung begegnet werden. Dies ist sicher mühsam, sollte aber deutliches Kennzeichen des alternativen Politikstils einer sozialistischen Partei sein. Die PDS muss sich auch unter der Bedingung der Regierungsverantwortung in Berlin als anerkannter Teil der außerparlamentarischen Bewegung und Opposition verstehen. Dies muss für alle kapitalismuskritischen, alten und neuen sozialen Bewegungen ein erkennbar gewolltes Bestreben der PDS sein.

  6. Der Bezirksvorstand kann für einige Bereiche der Politik in Berlin keine Fortschritte erkennen. Noch schlimmer: Die PDS sieht sich, auch und insbesondere seitens ihrer Wählerschaft, dem Vorwurf des Wahlbetrugs ausgesetzt. In dieser Situation ist die Information und offene Diskussion mit der Basis (nicht nur des eigenen Wahlkreises) und die zeitnahe Transparenz der Gründe für politische Entscheidungen für die Mitglieder der Fraktion des Abgeordnetenhauses erste Pflicht. Die vier kürzlich erschienenen Info-Blätter sind gut und richtig, doch sollte der parteiinterne Informationsfluss schneller und aktueller gestaltet werden, um der Parteibasis und den Bezirken eine gewollte und bewusste Möglichkeit der Stellung- und Einflussnahme zu gewähren.

  7. Die vielbeklagte Politikverdrossenheit vieler Menschen ist auch Ausdruck der Intransparenz politischer Entscheidungen, die oft als unsozial und nicht demokratisch zustande gekommen empfunden werden. Ein Schritt in Richtung von mehr Demokratieentwicklung könnte die Forderung und das Angebot der PDS sein, in allen gesellschaftlichen Bereichen außerparlamentarische Experten- oder Beratungsrunden einzurichten, die gewollten und unmittelbaren Einfluss auf politische Entscheidungen haben sollten. „Runde Tische“ insbesondere im Kommunalbereich als Politikangebot zu fordern, sollte ein erkennbar alternatives Projekt sozialistischer Politik in einer bürgerlichen Gesellschaft sein.

  8. Im Wahlkampf ist, auch unter Abweichung vom Wahlprogramm der Berliner PDS, davon gesprochen worden, im Bildungsbereich werde nicht gespart, im Gegenteil, es werde noch draufgelegt. Diese Versprechungen sind im Doppelhaushalt für die Jahre 2002 und 2003 bei aller erkennbaren Prioritätensetzung leider nicht erfüllt worden.

  9. Im Zusammenhang mit der gesamtgesellschaftlichen Diskussion der Ergebnisse der Studien „Pisa“ und „Bärenstark“ scheint es uns nicht mehr vermittelbar und auch nicht richtig, Kürzungen oder „Angleichungen“ im Bereich der Kinder  und Jugendpolitik gegen Verbesserungen im Bereich der Schulen aufzurechnen. Erziehung, Bildung und Ausbildung als ganzheitliches Projekt   von der Geburt, über Kita, Hort und Schule bis zur Ausbildung für einen Beruf   ist ein human-strategisches Projekt sozialistischer Politik, die sich an einem Menschenbild orientiert, das sich nicht kapitalistischem Verwertungsinteresse unterordnet. Soziale Gerechtigkeit bedeutet für Kinder auch frei zu sein von kapitalorientiertem Wettbewerb und der Abhängigkeit „großzügiger“ monetärer Zuteilungen durch Finanzexperten der politischen Parteien. Die Koalitionsvereinbarung muss an dieser Stelle neu verhandelt bzw. hinsichtlich der versprochenen Verbesserung der Sprachförderung in den und die Weiterentwicklung der Kitas zu Bildungseinrichtungen unbedingt umgesetzt werden.

  10. Der Senathat eineKommissioneingerichtet, um die Übertragung der staatlichen Kitas in kommunale Trägerschaften vorzubereiten und sie später weiter auszugliedern. Ungeachtet der gesellschafts- und sozialpolitischen Fragwürdigkeit dieser Planung, stellt der Bezirksvorstand fest: Eine wirkliche Beteiligung der Fachleute, von ErzieherInnen, GewerkschaftsvertreterInnen und Eltern gibt es nach unserem Kenntnisstand bisher nicht. Wir regen dringend an, die Besetzung der Kommission zu überprüfen und Fachleute, im Gegensatz zu Fachbeamten, und Betroffene mit einzubeziehen.

  11. Der Bezirksvorstand kritisiert die aus unserer Sicht unbefriedigende Behandlung der Berliner Flughafenpolitik durch den Landesvorstand und die Fraktion am Abgeordnetenhaus insgesamt. Die dauernde Überlastung des Flughafens Tegel und die zunehmende Aushöhlung des Nachtflugverbots sind kaum abzuschätzende Sicherheitsrisiken für die Anwohner. Die Schließungsverfahren für die Flughäfen Tempelhof und Tegel müssen wegen der bekannt langjährigen Dauer sofort begonnen werden. Die Gefährdung der Sicherheit und die Beeinträchtigungen der Lebensqualität der Bevölkerung im Umfeld der Flughäfen müssen so schnellstens mit diesen und anderen Schritten (z.B. durch eine sinnvolle Verkehrsaufteilung und strikte Einhaltung des Nachtflugverbots für Tegel) verringert und mittelfristig beseitigt werden.

  12. Mit der Verabschiedung des Berliner Landeshaushaltes 2004 müssen die Bezirke entschuldet werden. Nur so ist deren politische Handlungsfähigkeit, die von der PDS immer gefordert wurde, zu erreichen.

  13. Der Bezirksvorstand erwartet, dass sich Landesvorstand und die Fraktion im Abgeordnetenhaus der PDS auf Bundesebene dafür einsetzen, dass hinsichtlich der klaren und unmissverständlichen Absage der PDS an eine Politik, die gewaltsame Auseinandersetzung und Krieg zum legitimen, politischen Mittel der Bundesrepublik machen bzw. ausbauen will, keine Zweifel gesät werden. Eine Koalition auf Bundesebene, die dem nicht eindeutig Rechnung trägt, darf es mit der PDS nicht geben.

  14. Die aktuelle Programmdebatte und die Arbeit der Programmkommission war, zumindest über das internet, nur bedingt zu verfolgen. Der Bezirksvorstand regt an, unverzüglich eine parteiweite Diskussion zu beginnen, in der insbesondere auch die Entwicklung der europäischen Linken, in Anbetracht der letzten Wahlen in Europa, analysiert und ausgewertet wird. Entsprechende strategische und methodische Schlüsse sind in das neue Parteiprogramm einzuarbeiten.