Brief des Bezirksvorstandes der PDS Reinickendorf an den Landesvorstand der PDS Berlin

Landesvorstand der PDS Berlin
Genossen
Stefan Liebich
Landesvorsitzender

Berlin, 17.10. 2003

Lieber Stefan,
liebe Mitglieder des Landesvorstandes,

Wir möchten Euch darüber informieren, wie wir Beschlüsse von Bundes- und Landesparteitagen - der höchsten Gremien unserer Partei - respektieren und erfüllen.

In Realisierung des Beschlusses der außerordentlichen Tagung des 8. Parteitages haben wir den Protest gegen die „Agenda 2010“, das Eintreten für eine „Agenda sozial“ in den Mittelpunkt unserer Arbeit gestellt. Mit dem Sozialkonvoi am 6. September 2003 haben wir über den Arbeitskreis B96/ 96A gemeinsam mit dem PDS- Bezirksverband Berlin Drei und einigen Ortsverbänden im Kreis Oberhavel versucht, den Protest auf die Straße zu tragen und „nebenbei“ den Kommunalwahlkampf in Brandenburg anzuregen. Dabei haben wir Arbeitskontakte zu außerparlamentarischen Partnern hergestellt, die auch nach dem Sozialkonvoi weiter wirken. Für die finanzielle Unterstützung dieser Aktion durch den Landesvorstand danken wir. Die kurzfristige Absage von Senatorin Heidi Knacke- Werner bedauern wir; das Bekenntnis unserer Sozialsenatorin gegen den Sozialraubbau durch die „Agenda 2010“ hätte unserer Aktion größeres politisches Gewicht gegeben. Wir hätten es begrüßt, wenn Mitglieder des Landesvorstandes am Sozialkonvoi teilgenommen hätten. Wir hätten auch nichts dagegen gehabt, wenn der Landesvorstand oder andere Bezirksverbände diese Idee aufgegriffen und vielleicht sogar „nachgemacht“ hätten.

Als weitere gute Gelegenheit, PDS- Positionen darzustellen, erwies sich der Besuch von Petra Pau (MdB) am 22. September 2003 „vor Ort“ im Bezirk. Wir danken Petra und Annegret. Wir schätzen ihre Gespräche mit dem Betriebsratsvorsitzenden von Borsig und den Vertretern einer Bürgerinitiative in Frohnau sowie beim abendlichen Forum bei uns im „Roten Laden“ besonders deshalb, da sie uns unsere politischen Möglichkeiten im Westteil der Stadt gezeigt, aber gleichzeitig mit allem Ernst erneut auf die Erwartungen von Bürgerinnen und Bürgern auf eine andere Politik des rot- roten Senats in Berlin, auf deren Enttäuschungen aufmerksam gemacht haben.

Wir können nicht anders als Euch offen darauf hinzuweisen, dass unsere Politik im Senat die „kleinen Pflänzchen“ zerstört, die wir in den vergangenen Monaten in unserer kommunal-politischen Arbeit im Bezirk in und außerhalb der BVV - vor allem auch durch das engagierte Wirken von Renate Herranen - gesät haben. Die PDS ist auch für unsere Sympathisanten, Wählerinnen und Wähler in Reinickendorf mehr und mehr unglaubwürdig geworden. Und wir können dem kaum was entgegen stellen. Jede Auseinandersetzung mit den sozialen Grausamkeiten der „Agenda 2010“ wird mit einem Hinweis auf die unsoziale Berliner Politik beantwortet: „Ihr macht es ja nicht anders...“.

Der Austritt von Renate aus der Partei und damit das Verschwinden der PDS aus der BVV macht das alles nicht leichter. Die Partner im Bezirk reagieren nicht schadenfroh: sie sehen in Renates Schritt eine Konsequenz ihrer bisherigen Tätigkeit, einen Ausdruck ihrer Glaubwürdigkeit.
Der Bezirksvorstand und weitere GenossInnen der PDS Reinickendorf haben Renates Arbeit aktiv und mit Freude unterstützt. Wir haben darin unseren Beitrag gesehen, unser Wahlprogramm, also Parteitagsbeschlüsse Schritt für Schritt zu erfüllen. Wir sind froh, dass Renate aus ihrer Enttäuschung heraus nicht aufgibt und weiter zu ihrem Wort steht, das sie, das die PDS vor zwei Jahren den Wählerinnen und Wählern gegeben hat. In einer persönlichen Erklärung hat Renate in der BVV klargestellt, dass sie sich weiter für eine sozial gerechte Politik - vor allem auf sozialem Gebiet, im Kinder- und Jugendbereich und in der Bildungspolitik - einsetzen und gegen die verheerenden Auswirkungen der „Agenda 2010“ auf den Bezirk engagieren will. Diese Position gibt dem Bezirksverband die Möglichkeit, Renates Arbeit weiter nach Kräften zu unterstützen.

Parteitagsbeschlüsse gelten. Für alle. Im Protokoll der Landesvorstandssitzung vom 26.9.2003 heißt es: „Der Landesvorstand stellt fest, dass der Landesparteitag das höchste Gremium des Landesverbandes ist. Seine mehrheitlich gefassten Beschlüsse sind, im Rahmen des Statut der Partei, von allen Gliederungen und Zusammenschlüssen des Landesverbandes zu respektieren.“ Wir halten das für richtig.

Die PDS Reinickendorf und ihr bisheriges „Sprachrohr“ in der BVV haben den Beschluss der 3. Tagung des 8. Landesparteitages bzgl. der Kitakosten, der auf dem Wahlprogramm und den Koalitionsvereinbarungen beruhte und auch den programmatischen Grundsätzen unserer Partei (s. Entwurf des Parteiprogramms) entspricht, nicht nur respektiert, sondern gegenüber den Elternvertretungen und Vereinen im Bezirk, in den Gewerkschaften und im Personalrat aktiv vertreten. Unsere Vertreter im Senat haben mit „Duldung“ durch die Mehrheit der Abgeordnetenhausfraktion diesen Beschluss nicht respektiert. Leider hat der Landesvorstand das nicht kritisiert, sondern nachträglich durch einen neuen Parteitagsbeschluss legitimieren lassen. Aus unserer Sicht zeigt sich hier erneut, wie ungünstig es ist, dass die Funktionen des Landes- und des Fraktionsvorsitzenden nicht getrennt sind.
Die 4. Tagung hat mit knapper Mehrheit den Beschluss der 3. Tagung revidiert. Das ist ihr gutes Recht. Aber auch die Minderheit darf feststellen, dass sie dies für einen Wortbruch und darüber hinaus für einen politischen Fehler hält.

Weil wir über die Erfüllung von Parteitagsbeschlüssen reden:
Die 3. Tagung des 8. Landesparteitages hatte u.a. beschlossen, der Landesvorstand solle

  • bis Ende März 2003 den Entwurf eines Kommunikationskonzeptes, in den auch Schlussfolgerungen aus der Analyse des Bundestagswahlkampfes einfließen sollen, im Landesverband zur Diskussion zu stellen;

  • im September eine Information zur Umsetzung des Beschlusses „Organisation ist Politik“ geben;

  • in Vorbereitung auf die 1. Tagung des 9. Landesparteitages bis 15. Oktober 2003 den Rechenschaftsbericht über seine Arbeit in der zurückliegenden Wahlperiode, einschließlich Finanzbericht, im Landesverband zur Diskussion stellen.

Wie der Landesvorstand mit diesen Beschlüssen des Landesparteitages, des höchsten Gremiums des Landesverbandes, umgeht, zeugt nun nicht gerade von höchstem Respekt für innerparteiliche Demokratie.

Auf der 3. Tagung hast Du, Stefan, zu unserem alternativen Leitantrag an den Landesparteitag, der die Bedingungen nannte, unter denen wir die rot- rote Koalition in Berlin fortsetzen sollten, erklärt, der Landesvorstand hätte ein anderes Politikverständnis als die Reinickendorfer PDS. Das stimmt. Das hat sich im Verlaufe des Jahres bestätigt.
Die Delegierten der PDS Reinickendorf haben - mit großen Bauchschmerzen -, aber sie haben auf dem Landesparteitag der Koalitionsvereinbarung zugestimmt und die Erfüllung dieses Parteitagsbeschlusses - wie es das Statut verlangt - Ernst genommen und konstruktiv und kritisch begleitet. In den vergangenen eineinhalb Jahren hat der Bezirksvorstand, haben einzelne Mitglieder unseres Bezirksverbandes sich in mehr als zwanzig Fällen mit Anträgen an Bundes- und Landesparteitage, mit Überlegungen und Vorschlägen an den Partei-, bzw. den Landesvorstand gewandt. Wir wollten und wollen nie Recht haben; wir wollten und wollen nur Ernst genommen werden. (Übrigens: Reaktionen gab es erst seit Mitte dieses Jahres.)
Gleichzeitig haben wir uns aktiv in die Arbeit der Projektgruppen eingebracht, um so dazu beizutragen, dass sich das politische Profil der Berliner PDS nicht in der Zuarbeit für die Senatspolitik oder deren Interpretation erschöpft. Aus dieser Erfahrung erlauben wir uns das Urteil: Das ist mit Ausnahmen nicht gelungen. Der Beschluss der 3. Tagung zu den Projektgruppen, der auf unserem Antrag beruhte, wurde nicht erfüllt. Die Verantwortung dafür trägt der Landesvorstand.

Die Entwicklung seit der 3. Tagung des 8. Landesparteitages lässt uns zu dem Schluss kommen, dass sich die Berliner PDS im Senat immer stärker allein den haushaltspolitischen Zwängen unterwirft und im Interesse des Erhalts der Koalition politische Grenzen überschreitet. Der Vertrauensverlust der PDS in Berlin (und auch die Resignation in der eigenen Partei) ist das Ergebnis einer von den Menschen als ungerecht empfundenen Politik, nicht einer unzureichenden Kommunikation.
Die PDS Reinickendorf wird deshalb die vom Statut vorgesehenen Möglichkeiten nutzen, öffentlich für ihr Politikverständnis in der Berliner PDS zu werben, und auf der 1. Tagung des 9. Landesparteitages erneut die Frage nach den Ergebnissen der Regierungsbeteiligung der PDS in Berlin stellen.

Mit demokratisch- sozialistischen Grüßen

Klaus Rathmann
Bezirksvorsitzender